Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
ganzen Welt, und Gott allein weiß, wo sie sich jetzt befindet. Wahrscheinlich in Venedig, vielleicht aber auch in Rom. Die Lateiner sind alle miteinander Diebe.« Vergeblich versuchte sie die Wut aus ihrer Stimme herauszuhalten. »Außerdem die Dornenkrone«, fügte sie hinzu. »Aber ich habe aus Jerusalem erfahren, dass man dort kürzlich eine nahezu ebenso bedeutende Reliquie entdeckt hat – nach über eintausendzweihundert Jahren.«
Anna versuchte, sich nicht davon beeindrucken zu lassen. Sie durfte nie vergessen, dass Freude am Betrug und
Rachsucht Zoes wichtigste Wesensmerkmale waren. Nur ein Dummkopf würde ihr trauen. Trotzdem fragte sie und wartete beinahe atemlos auf die Antwort.
Mit breitem Lächeln erklärte Zoe: »Ein vom Evangelisten Lukas eigenhändig gemaltes Porträt der Muttergottes. Denkt nur. Er war Arzt wie Ihr. Und Maler. Er hat sie gesehen, so wie Ihr und ich einander sehen können.« Ihre Stimme war rau vor Erregung. »Wahrscheinlich war sie da schon älter, und sicherlich hatten sich alles Leid und aller Kummer in ihr Gesicht eingegraben.« Ihre Augen leuchteten vor Begeisterung. »Maria, die einst Gottes Sohn zur Welt gebracht und bei seinem Tod am Fuß des Kreuzes gestanden hatte, ohne etwas für Ihn tun zu können, als alte Frau porträtiert. Maria, die wusste, dass Er in den Himmel erhoben worden war, nicht durch den Glauben oder die Gebete der Priester, sondern weil er Ihn gesehen hatte.«
»Wo befindet sich das Bild?«, fragte Anna. »Wer hat es? Woher wisst Ihr, dass es echt ist? Man hat schon mehr Splitter des heiligen Kreuzes an Pilger verkauft, als Holz in einem ganzen Wald wächst.«
»Seine Existenz ist bestätigt worden«, sagte Zoe ruhig und siegessicher.
»Und warum berichtet Ihr mir davon?« Sie fürchtete die Antwort.
Mit festem Blick teilte ihr Zoe mit: »Warum wohl? Natürlich, weil ich will, dass Ihr nach Jerusalem reist und es für mich kauft. Stellt Euch nicht unwissend, Anastasia. Selbstverständlich bekommt Ihr von mir das nötige Geld. Sobald Ihr mit dem Bild zurück seid, werde ich es dem Kaiser geben. Dann wird Byzanz erneut eine der bedeutendsten Reliquien der Christenheit besitzen. Die Jungfrau Maria ist unsere Schutzheilige, unsere Hüterin und Fürsprecherin
am Thron Gottes. Sie wird uns vor Rom schützen, vor der Gewalttätigkeit der Kreuzfahrer und der Verderbtheit der Päpste.«
Anna war wie vor den Kopf geschlagen. Zoe hatte gesagt, sie wolle das Bild dem Kaiser geben, nicht der Kirche. Ob er wusste, dass Zoe sich einst mit Ioustinianos und den anderen gegen ihn verschworen hatte? Offensichtlich wollte sie sich auf diese Weise ihre Freiheit erkaufen, wenn nicht gar ihr Leben.
Sie fragte: »Warum ich? Ich verstehe nichts von Malerei.«
»Ich vertraue Euch«, sagte Zoe mit zufriedener Miene. »Ihr werdet mich nicht hintergehen, denn damit würdet Ihr Euch selbst schaden … und Ioustinianos. Vergesst nicht, wie gut ich Euch kenne.«
»Ich kann unmöglich allein nach Jerusalem reisen«, gab Anna zu bedenken, obwohl ihr Herz inzwischen bei dem Gedanken an diese Aussicht wild schlug. Jerusalem – so nahe am Sinai. Vielleicht könnte sie Ioustinianos dort treffen. Hatte Zoe auch daran gedacht? »Und erst recht könnte ich nicht ohne eine bewaffnete Wache zurückkehren, wenn ich eine solche Reliquie bei mir habe«, fügte sie hinzu.
»Keins von beiden erwarte ich von Euch.« Zoe sah aus dem Fenster auf das verblassende Licht des Tagesgestirns. »Ich habe bereits Erkundigungen über die Möglichkeiten einer Passage eingezogen und dafür gesorgt, dass Ihr in vollständiger Sicherheit reisen könnt, wenn man von den unvermeidbaren üblichen Gefahren einer solchen Reise absieht. « Sie lächelte wieder. »In den nächsten Tagen läuft ein Schiff unter dem Kommando eines Venezianers nach Akko aus. Dessen Kapitän wird, sicherlich unter entsprechendem Schutz, von dort aus nach Jerusalem weiterziehen. Die Leute sind bereit, Euch gegen eine angemessene Bezahlung
mitzunehmen, für die ich aufkommen werde. Dem Kapitän ist der Zweck Eurer Reise bekannt, aber niemandem außer ihm.«
»Ein Venezianer?« Anna war entsetzt. »Die werden mir doch das Bild sofort abnehmen, es wahrscheinlich über Bord werfen, und Ihr werdet es nie sehen.«
»Nicht dieser«, sagte Zoe mit verstohlener Befriedigung. »Er heißt Giuliano Dandolo. Ich habe ihm lediglich erklärt, dass es sich um das Bild einer byzantinischen Madonna handelt, für die die Tochter eines Kaufmanns Modell
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