Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
gesessen hat – unter Umständen seine Mutter. Ihr wäret gut beraten, ihm nichts anderes zu sagen.«
Anna blieb reglos stehen. »Und wenn ich es nicht tue?«, stieß sie hervor.
»In dem Fall würde ich mich nicht länger verpflichtet fühlen, Stillschweigen über Eure … Identität zu bewahren. Weder dem Kaiser gegenüber noch der Kirche oder Dandolo. Überlegt Euch gut, ob Ihr das wollt, bevor Ihr es darauf ankommen lasst.«
»Ich fahre«, sagte sie.
Zoe lächelte. »Ich habe nichts anderes erwartet.« Sie nahm ein Päckchen vom Tisch und hielt es Anna hin. »Hier habt Ihr das Geld, Eure Anweisungen und einen vom Kaiser unterschriebenen Geleitbrief auf Euren Namen.« Sie bekreuzigte sich und sagte: »Gott sei mit Euch, und möge Euch die Heilige Jungfrau beschützen.«
Im geschäftigen Hafen sah Anna einen venezianischen Dreimaster mit einem Lateinsegel vor dem hoch aufragenden Heck. Sie schätzte die Länge des Schiffes auf mindestens fünfzig Schritt. Als sie am Fuß der Laufplanke ihren Namen und den des Kapitäns nannte, wurde sie sogleich
an Bord gelassen. Giuliano stand an Deck. Statt Tunika und wallenden Gewändern trug er eine Kniehose und ein kurzes ledernes Wams. Er sah auf einmal aus wie ein Venezianer und wirkte fremdländisch auf sie.
»Kapitän Dandolo«, sagte sie mit fester Stimme. Was auch immer es kosten würde, es gab kein Zurück. »Zoe Chrysaphes hat mir gesagt, dass Ihr bereit seid, mich auf Eurem Schiff nach Akko mitzunehmen und mich von dort bis Jerusalem zu begleiten. Sie hat Euch dafür angemessen bezahlt.« Die innere Anspannung ließ ihre Stimme kalt klingen.
Während er sich langsam umwandte, trat ein Ausdruck von Überraschung auf seine Züge, doch schon bald erstickte die Erinnerung an ihre letzte Begegnung das aufflammende Erkennen.
»Anastasios Zarides«, sagte er mit leiser Stimme, die schon zwölf Fuß weiter, wo sich Seeleute in der Takelage zu schaffen machten, nicht mehr zu hören war. »Ja, sie hat mit mir Vereinbarungen über einen Fahrgast getroffen, allerdings ohne mir zu sagen, dass Ihr das sein würdet.« Sein Gesicht verdüsterte sich. »Seit wann dient Ihr ihr?«
»Seit sie die Macht hat, mich zu verletzen«, gab sie zurück, ohne seinem Blick auszuweichen. »Aber ihr Auftrag dient dem Wohl unserer Stadt: Ich soll ein Bild holen, das Konstantinopel gehört.«
»Ein Bild? Hat sie gesagt, was für eins?«
Gern hätte sie ihm aufrichtig geantwortet. Eine vorsätzliche Lüge würde die Kluft, die zwischen ihnen entstanden war, nur noch vertiefen.
»Eine Byzantinerin aus guter Familie«, gab sie zurück, »die allem Anschein nach einer Tragödie zum Opfer gefallen ist.«
»Und warum liegt Zoe daran?«
»Glaubt Ihr, dass ich sie danach gefragt habe?«, sagte sie und versuchte, es spöttisch klingen zu lassen.
»Vielleicht habt Ihr es erraten«, gab er zurück. Sie war nicht sicher, ob in seiner Stimme Güte oder Trauer lag.
Jetzt war sie an der Reihe, den Blick abzuwenden. Während sie über das Hafenbecken schaute, sagte sie: »Ich vermute, dass sie das Bild haben will, weil es ihr Macht verleiht. Es ist aber auch möglich, dass seine Schönheit sie begeistert. Schönheit überwältigt sie. Ich habe gesehen, wie sie unverwandt in den Sonnenuntergang geschaut hat, bis er sich in ihre Seele eingebrannt hatte.«
»Hat sie denn eine?«, fragte er mit Schärfe in der Stimme.
»Ist es nicht weit schlimmer, eine verruchte Seele zu haben als gar keine?«, gab sie zurück. »Den Menschen quält der Verlust dessen, was hätte sein können, das Bewusstsein, dass es in Reichweite war und man es sich hat entgleiten lassen. Ich glaube nicht, dass es in der Hölle um Feuer, zerfetztes Fleisch und den erstickenden Geruch von Schwefel geht, sie dürfte eher die Erinnerung an die Herrlichkeit des Himmels sein, die man verloren hat.«
»Gott steh uns bei, Anastasios!«, rief Giuliano aus. »Woher um alles in der Welt habt Ihr nur solche Gedanken?«
Er legte ihr die Hand auf den Rücken. Es war weit eher eine freundschaftliche Geste als eine Liebkosung, aber als er sie gleich darauf fortnahm, kam es ihr vor, als sei die Wärme der Sonne entschwunden.
»Kommt also mit nach Jerusalem und holt ihr das Bild«, sagte er munter. »Morgen früh segeln wir los. Aber ich nehme an, dass Ihr das bereits wisst.« Er lachte kurz auf, und das Lächeln blieb in seinen Augen. »Es ist das erste Mal, dass wir einen Schiffsarzt an Bord haben.«
KAPİTEL 58
Anna stand an der Reling. Die
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