Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
der ab sofort nicht mehr zählte.
Auf ein Zeichen Vicenzes hin trat ein Diener vor und griff nach dem schützenden Tuch. Man hörte nicht den geringsten
Laut, keines der schweren Gewänder raschelte, kein Fuß rührte sich. Selbst der Papst schien den Atem anzuhalten.
Jetzt nahm der Mann das Tuch ab.
Der Papst und die Kardinäle beugten sich gespannt vor. Es herrschte absolute Stille.
Palombara sah hin, kniff die Augen zusammen und sah erneut hin. Grundgütiger! Was er da sah, waren nicht die Gesichtszüge der Muttergottes, sondern eine mit großer Detailfreude und Genauigkeit gemalte Darstellung von viel nacktem Fleisch. Die in der Bildmitte lächelnde Gestalt schien alles andere als eine Jungfrau zu sein. Sie war von so offenkundiger Weiblichkeit, dass sich bei ihrem Anblick der Puls beschleunigte, das Blut heiß und voll Begierde in die Adern schoss. Eine ihrer üppigen Brüste hatte sie entblößt und ihre schmale Hand auf die unbekleidete Lende des Mannes gelegt, der neben ihr stand.
Einer der Kardinäle konnte sich nicht länger beherrschen, platzte vor Lachen heraus und versuchte das sogleich mit einem vorgetäuschten Hustenanfall zu überdecken.
Das Gesicht des Papstes war scharlachrot angelaufen, wofür es mehr als einen Grund geben konnte.
Mehrere Kardinäle räusperten sich, einer stieß ein angewidertes Schnauben aus, dann lachte ein anderer ungehemmt laut heraus.
Vicenze war bis an die Haarwurzeln erbleicht. Seine Augen schienen wie von Fieber zu glänzen.
Eine ganze Weile bemühte sich Palombara, seinen Lachreiz zu unterdrücken, doch es misslang ihm. Die Situation war einfach zu köstlich. Ihm kam zu Bewusstsein, dass er in jemandes Schuld stand, ohne sie je begleichen zu können.
Palombara blieb keine Wahl – dem Ruf des Heiligen Vaters musste man Folge leisten. Als er vor Papst Nikolaus stand, sagte dieser mit undurchdringlicher Miene: »Ich erwarte eine Erklärung von Euch, Enrico.« Seine Stimme zitterte, ohne dass Palombara hätte sagen können, ob vor Wut oder vor unterdrücktem Gelächter.
Ihm blieb nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen, und so begann er ehrerbietig: »Es war mir gelungen, den Kaiser dazu zu bringen, dass er Euch die Ikone der Jungfrau nach Rom schickt. Man hat sie in das Haus gebracht, das Vicenze und ich für unseren Aufenthalt in Konstantinopel gemietet haben, und dort vor unseren Augen ausgepackt. Es handelte sich ganz eindeutig um ein sehr schönes Bildnis der Muttergottes. Dann hat man sie vor unseren Augen wieder eingepackt und zum Versand bereitgemacht. «
»Was Ihr da sagt, nützt mir nichts«, sagte Papst Nikolaus trocken. »Wer hat sie beschafft? Ihr?«
»Ja, Eure Heiligkeit.«
»Und was ist mit Vicenze? Sagt mir nicht, dass es sich bei diesem Streich um seine Rache für Euren Erfolg handelt. Unmöglich kann er sich selbst einen solchen Tort angetan haben. Euch muss klar sein, dass ihm Hohn und Spott aller bis ins Grab folgen werden.« Er beugte sich vor. »Das sieht mir eher nach einem Spaß aus, den Ihr Euch gemacht habt, Enrico. Ich bin aber bereit, Euch zu verzeihen …« Sein Mundwinkel zuckte kaum wahrnehmbar, und es gelang ihm, das Lachen zu unterdrücken. »Allerdings nur unter der Voraussetzung, dass Ihr mir so bald wie möglich die Ikone der Jungfrau übergebt. Natürlich ohne jedes Aufsehen.«
Auch wenn Papst Nikolaus nicht den unerschütterlichen Glauben und die Erleuchtung besitzen mochte, die nötig
waren, um die Christenheit zu führen, besaß er fraglos einen ausgeprägten Humor. Diese Gabe genügte in Palombaras Augen, um so gut wie jede seiner Schwächen zu entschuldigen.
»Befindet sie sich noch in Konstantinopel?«, fragte der Papst.
»Das weiß ich nicht, Eure Heiligkeit, aber ich bezweifle es. Ich denke nicht, dass Kaiser Michael falsches Spiel mit uns getrieben hat.«
»So? Nun, dann will ich mich Eurer Meinung anschließen«, sagte der Papst nachdenklich. »Ihr seid ein Zyniker. Da Ihr selbst andere Menschen manipuliert, rechnet Ihr damit, dass diese Euch ebenso behandeln.« Er hob die Brauen. »Seht nicht so zerknirscht drein! Wo also ist die Ikone, und wer könnte sie haben? Ich möchte es nur wissen, wenn es Euch nicht peinlich ist, es mir mitzuteilen.«
»Ich habe die Vermutung, dass sie sich in Venedig befinden könnte«, gab Palombara zurück. »Der Kapitän, der Vicenze und das Bild nach Rom gebracht hat, war ein Venezianer – Giuliano Dandolo.«
»So, so. Ich habe von ihm gehört. Ein Nachfahre des
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