Die dunklen Wasser von Aberdeen: Roman (German Edition)
DI Insch lehnte ihm gegenüber an der Spüle. Zwischen ihnen stand ein kleiner Kerzenleuchter. Nur zwei der fünf Arme waren mit flackernden Kerzenstummeln bestückt. Niemand sagte ein Wort, als Logan eintrat.
Inschs Miene war wie versteinert, sein Blick starr auf die schlaffe Gestalt am Tisch gerichtet. Er musste dasselbe gedacht haben wie Logan: Sie hatten ihn gestern Abend im Präsidium gehabt, und sie hatten ihn laufen lassen. Und jetzt hatten sie noch ein totes Kind am Hals.
»Ich habe den Bereitschaftsarzt nach Hause geschickt.« Logans Worte schienen von der Dunkelheit verschluckt zu werden.
»Was hat er gesagt?«, fragte Insch, ohne den Blick von Roadkill zu wenden.
»Es ist wahrscheinlich ein kleines Mädchen. Wie alt, wissen wir nicht. Sie ist schon lange tot. Jahre möglicherweise.«
Insch nickte, und Logan wusste genau, wie erleichtert er war. Wenn das Kind schon so lange tot war, dann spielte es keine Rolle, dass sie Roadkill gestern auf freien Fuß gesetzt hatten. Niemand hatte diese Entscheidung mit dem Leben bezahlen müssen.
»Mr. Philips hat jegliche Stellungnahme verweigert. Nicht wahr, Mr. Philips? Sie wollen mir nicht sagen, wer sie ist oder wann Sie sie umgebracht haben. Jetzt haben wir es plötzlich mit zwei toten Mädchen zu tun – sonderbar, nicht wahr? Und noch sonderbarer ist es, dass es da irgendwo einen kranken Dreckskerl gibt, der kleine Jungs tötet und ihnen Sachen in den Hintern schiebt. Und ihnen den Schniedel abschneidet.«
Logan runzelte die Stirn. David Reid war tot und verstümmelt in einem Straßengraben am anderen Ende der Stadt gefunden worden. Roadkill hob seine toten Geschöpfe gerne auf. Er hätte seine Beute nicht einfach so im Freien liegen lassen.
»Wissen Sie«, versuchte Logan in die Rolle des guten Bullen zu schlüpfen, »wir könnten Ihnen die Sache wesentlich leichter machen, Bernard. Sie sagen uns, was passiert ist. In Ihren eigenen Worten, okay? Ich bin sicher, dass Sie das alles gar nicht gewollt haben, oder?«
Roadkill sackte nach vorn, bis seine Stirn auf der zerkratzten Tischplatte auflag.
»War es ein Unfall, Bernard? Ist es einfach so passiert?«
»Sie nehmen sie alle weg. Alle meine schönen toten Geschöpfe.«
Insch ließ seine massige Faust mit solcher Wucht auf die Tischplatte krachen, dass der Kerzenständer und Roadkills Kopf einen Satz machten. Heißes Wachs spritzte auf das Holz. Bernard Duncan Philips ließ sich langsam wieder auf den Tisch sinken und vergrub den Kopf unter den Armen.
»Sie wandern in den Knast. Haben Sie mich verstanden? Sie kommen nach Peterhead, zu den ganzen anderen kranken Mistkerlen. Zu den Pädophilen, den Vergewaltigern und Mördern. Wollen Sie, dass einer von denen Sie zu seiner Braut macht? Vielleicht finden Sie ja die Liebe Ihres Lebens in so einem behaarten Affen aus den Slums von Glasgow? Wenn Sie sich nicht bald dazu bequemen, mit uns zu reden, werde ich nämlich persönlich dafür sorgen, dass Sie mit dem versifftesten, brutalsten Vergewaltiger zusammengesperrt werden, den sie da im Angebot haben!«
Die Rede war darauf angelegt, eine Reaktion zu provozieren, irgendeine Reaktion. Doch es kam keine. In der unbehaglichen Stille hörte Logan plötzlich eine leise Melodie. Roadkill summte etwas vor sich hin. Es klang wie »O bleibe Herr«.
Das Küchenfenster wurde plötzlich hell, und Logan wischte ein Loch in die schmierige Dreckschicht auf der Scheibe. Der Van der Spurensicherung kämpfte sich den Zufahrtsweg entlang. Vor dem Eingang von Nummer zwei blieb er stehen. Dahinter kam noch ein zweiter Wagen. Ein chromblitzendes, teures Gefährt, das seine Probleme mit der verschneiten Piste hatte. Als es endlich den Hof erreichte, hatten die Spurensicherer schon damit begonnen, ihre Ausrüstung aus der Geborgenheit des geheizten Vans in Roadkills Privatgruft zu schleppen.
Die Fahrerin des zweiten Wagens kletterte hinaus in den Schnee. Es war Isobel.
Logan seufzte. »Die Spusi und die Gerichtsmedizinerin sind gerade eingetroffen.« Er sah zu, wie sie den Kragen hochklappte und nach hinten zum Kofferraum schlitterte. Über ihrem hellbraunen Kostüm trug sie einen langen kamelfarbenen Mantel. Mühsam entledigte sie sich ihrer italienischen Lederstiefeletten und schlüpfte in ein Paar Gummistiefel, ehe sie mit schweren Schritten auf das Wirtschaftsgebäude zustapfte.
Dreißig Sekunden später stand sie wieder draußen im Schnee und hielt sich schwer atmend den Bauch. Kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an.
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