Die dunklen Wasser von Aberdeen: Roman (German Edition)
Verdächtigen.«
Sie ließ den Mundschutz zurückschnellen und murmelte halblaut vor sich hin: »Zuerst lässt er die Obduktion von David Reid sausen, und jetzt kann er sich noch nicht mal dazu aufraffen, zu dieser hier zu kommen. Ich weiß gar nicht, warum ich mir überhaupt die Mühe mache …« Ihre Unmutsäußerungen wurden leiser und verstummten schließlich, als sie ihr Mikrofon herrichtete und die einleitenden Angaben auf Band sprach. Der Staatsanwalt warf Logan einen missbilligenden Blick zu. Offenbar teilte er Isobels Einschätzung der Situation.
Das schrille Dudeln von Logans Handy unterbrach ihre Auflistung der anwesenden Personen, wofür sie ihn mit einem giftigen Blick bedachte. »Ich gestatte keine Handys bei meinen Obduktionen!«
Unter wortreichen Entschuldigungen kramte Logan den Gegenstand des Anstoßes aus der Tasche und schaltete ihn aus. Wenn es irgendetwas Wichtiges war, würde der Anrufer es noch einmal versuchen.
Immer noch vor Zorn bebend schloss Isobel die Präliminarien ab, nahm sich eine Schere aus glänzendem Edelstahl von dem Tablett mit den Instrumenten und begann das Paketklebeband wegzuschneiden, wobei sie den Zustand der Leiche, die sie freilegte, fortlaufend kommentierte.
Unter dem Klebeband war das kleine Mädchen nackt.
Ein dickes Büschel Haare drohte abzureißen, als Isobel den Kopf des Kindes vom Klebeband zu befreien versuchte. Sie löste es mit Aceton ab, und der scharfe Chemiedunst überlagerte kurzzeitig die antiseptische Frische der Luft und die unterschwellig wahrnehmbaren Verwesungsgerüche. Aber diese Leiche hatte wenigstens nicht drei Monate lang in einem Graben gelegen.
Isobel legte die Schere auf das Tablett zurück, und ihr Assistent machte sich daran, das Klebeband in etikettierte Beweismittelbeutel zu verfrachten. Der Körper war immer noch in Embryonalstellung zusammengerollt. Behutsam löste Isobel die Starre in den Gelenken, indem sie sie mehrmals hin und her bog, bis sie das kleine Mädchen schließlich flach auf den Rücken legen konnte. Als ob sie nur schliefe.
Ein blondes Mädchen von vier Jahren, ein wenig übergewichtig, mit zahlreichen Blutergüssen an Schultern und Oberschenkeln, die sich als dunkle Flecken auf der wächsernen Haut abzeichneten.
Ein Fotograf, den Logan nicht kannte, knipste eifrig, während Isobel arbeitete.
»Ich brauche gute Porträtaufnahmen«, sagte Logan zu ihm.
Der Mann nickte und beugte sich über das kalte, tote Gesicht.
Blitz, sirr , Blitz, sirr.
»Da ist eine tiefe Schnittwunde am Ansatz des linken Oberarms. Sieht aus, als ob …« Isobel zog an dem Arm, sodass die klaffende Wunde sich weitete. »Ja, sie reicht bis auf den Knochen.« Mit einem behandschuhten Finger befühlte sie die Wundränder. »Sie wurde dem Opfer einige Zeit nach Eintritt des Todes beigebracht. Ein einzelner Schlag mit einer scharfen, flachen Klinge. Möglicherweise ein Fleischerbeil.« Sie hielt das Gesicht so dicht vor den Einschnitt, dass ihre Nase das dunkelrote Fleisch beinahe berührte. Und schnüffelte. »Im Bereich des Schnitts ist ein deutlicher Geruch nach Erbrochenem festzustellen …« Sie streckte eine Hand aus. »Gib mir mal die Pinzette.«
Ihr Assistent reichte ihr das Gewünschte, worauf Isobel eine Weile in der Wunde herumstocherte und schließlich etwas Graues, Knorpelartiges zutage förderte.
»In der Wunde finden sich teilweise verdaute Essensreste.«
Logan versuchte sich die Szene nicht allzu deutlich auszumalen. Es gelang ihm nicht. »Er wollte sie zerteilen«, seufzte er. »Um die Leiche zu beseitigen.«
»Und wie kommst du darauf?«, fragte Isobel. Ihre Hand ruhte leicht auf der Brust des kleinen Mädchens.
»In den Zeitungen kann man ja weiß Gott genug über zerstückelte Leichen lesen. Er will alle Beweise für seine Tat beseitigen, also versucht er, sein Opfer in Stücke zu hacken. Ist aber leider nicht so einfach, wie es klingt. Schon bei dem Versuch wird ihm schlecht.« Logans Stimme klang hohl. »Also verschnürt er sie mit Klebeband, steckt sie in einen Müllsack und bringt sie runter, um sie von den Scaffies abtransportieren zu lassen.« In London mochten die Herrschaften sich »Fachkräfte für Abfallwirtschaft« nennen, aber in Aberdeen hießen die Müllmänner immer noch Scaffies.
Der Staatsanwalt schien tatsächlich beeindruckt. »Sehr gut«, sagte er. »Da könnten Sie durchaus Recht haben.« Er wandte sich an Isobels Assistenten Brian, der damit beschäftigt war, die Knorpelpartikel in ein kleines
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