Die dunklen Wasser von Aberdeen: Roman (German Edition)
gespannt, wie es schien, als wüsste es genau, dass man ihm jetzt den schwarzen Peter zugeschoben hatte. Auf seinem Schreibtisch lag ein Abzug des Fotos, das sie an die Presse gegeben hatten. Es war das aus dem Leichenschauhaus, ein bisschen retuschiert, damit sie nicht ganz so tot aussah. Sie musste ein hübsches Ding gewesen sein. Ein vierjähriges Mädchen mit schulterlangen blonden Haaren, die ihr blasses Gesicht in weichen Locken umrahmten. Stupsnase. Rundes Gesicht. Runde Wangen. Laut Beschreibung waren ihre Augen blaugrün, doch auf dem Foto waren sie geschlossen. Niemand sah gern einem toten Kind in die Augen. Er nahm das Bild und heftete es neben dem Stadtplan an die Wand.
Bislang war das Echo auf den Appell in den Medien bescheiden gewesen. Niemand schien zu wissen, wer das kleine Mädchen war. Das würde sich vermutlich an diesem Abend ändern, wenn ihr Bild wieder im Fernsehen ausgestrahlt würde. Dann würde eine Flut von Anrufen von hilfsbereiten Mitbürgern eingehen, die sie mit nutzlosen Informationen geradezu überschütteten.
Die nächsten zwei Stunden brütete er noch einmal über den Zeugenaussagen. Er hatte sie alle schon einmal gelesen, doch er wusste genau, dass sich irgendwo auf diesen Seiten die Antwort verbarg. Wer auch immer die Leiche beseitigt hatte, wohnte keinen Steinwurf von dieser Mülltonne entfernt.
Endlich ließ er den kalten Kaffee stehen, den er sich schon vor einer Stunde geholt hatte, und streckte seinen verspannten Rücken. Er kam einfach nicht vom Fleck. Und noch immer hatte er mit niemandem über diese Leiche im Hafenbecken gesprochen. Vielleicht war es ja Zeit für eine kleine Pause?
DI Steels Büro war ein Stockwerk höher. Blauer abgetretener Teppichboden und klapprig aussehende Möbel. An der Wand hing ein Schild, das in großen roten Buchstaben verkündete: » Rauchen verboten «, doch das konnte DI Steel nicht abschrecken. Sie saß an ihrem Schreibtisch, das Fenster hinter ihr einen Spalt breit geöffnet, damit der Qualm abziehen und sich im verblüffend blauen Himmel über Aberdeen verflüchtigen konnte.
Wenn Insch der Oliver Hardy des Präsidiums war, dann war DI Steel Stan Laurel. Insch war fett; sie war spindeldürr. Insch hatte eine Glatze; Steel sah aus, als hätte ihr jemand mit Tesafilm einen Cairn-Terrier auf den Kopf geklebt. Sie war angeblich erst zweiundvierzig, wirkte aber wesentlich älter. Nach Jahrzehnten des Kettenrauchens sah ihr Gesicht aus wie ein Asyl für heimatlose Falten und Runzeln. Sie trug einen Hosenanzug von Marks & Spencer – grau, damit man die Asche nicht sah, die ständig von ihrer Zigarette abfiel. Mit der burgunderfarbenen Bluse darunter vertrug sie sich allerdings nicht so gut.
Es fiel schwer, zu glauben, dass sie der größte Frauenheld der gesamten Truppe war.
Sie hatte ein Handy zwischen Ohr und Schulter geklemmt und redete nur mit dem einen Mundwinkel, damit die Zigarette, die in dem anderen steckte, nicht herausfiel. »Nein. Nein. Nein …«, stieß sie in einem harten Stakkato hervor. »Jetzt hören Sie mir mal zu: Wenn ich Sie in die Finger kriege, stanze ich Ihnen ein neues Arschloch. Nein … nein, es ist mir vollkommen scheißegal, wem Sie dafür Feuer unterm Hintern machen müssen. Wenn Sie die Sachen nicht bis Freitag rüberwachsen lassen, dann sind wir aber geschiedene Leute … Das werde ich, darauf können Sie einen lassen …« Sie blickte auf, sah Logan in der Tür stehen und bot ihm mit einer lässigen Handbewegung einen altersschwach aussehenden Stuhl an. »Ja … ja, das klingt schon besser. Ich wusste doch, dass wir uns einig werden können. Freitag.« DI Steel klappte ihr Handy zu und lächelte boshaft. »Einbauküchen-Komplettservice. Dass ich nicht lache. Wenn man diesen Leuten den kleinen Finger reicht, pissen sie einem gleich auf die Hand.« Sie griff nach einer Schachtel King-Size-Zigaretten, die vor ihr auf dem Schreibtisch lag, und wedelte damit in Logans Richtung. »Auch eine?«
Logan lehnte dankend ab, und sie lächelte wieder.
»Nein? Na, Sie haben ja Recht. Ist ’ne Scheiß-Angewohnheit.« Sie fummelte eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an der an, die sie gerade rauchte, um dann Letztere auf der Fensterbank auszudrücken. »Also, was kann ich für Sie tun, Mr. Polizeiheld?«, fragte sie und lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, das Gesicht von einer Rauchwolke umnebelt.
»Ihre Wasserleiche. Mister Knielos.«
Steel zog eine Augenbraue hoch. »Ich höre.«
»Ich glaube, dass
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