Die Echsenwelt: Ein Pip& Flinx Roman
bedrohliche Fassade so lange aufrechtzuerhalten, bis er bekommen hatte, was er wollte. Im Weitergehen probierte er ein paar hoffentlich einschüchternd wirkende Gesichtsausdrücke aus, wobei er einen Spiegel schmerzlich vermisste. Ihm war klar, dass sein jugendliches Erscheinungsbild gegen ihn arbeiten würde. Mit einundzwanzig war es, auch wenn man größer als der Durchschnitt war, eben nicht ganz so einfach, jemanden allein durch Blicke zu erschrecken.
Die fremdartigen Konstruktionen um ihn herum waren von beachtlichem, aber nicht plump wirkendem Umfang. Stattliche Reihen von zylinderförmigen Gebilden mit ihren Zuleitungen und Verbindungselementen hatten etwas Majestätisches und wirkten dennoch schlicht. Während Flinx den kontinuierlich schwankenden Empfindungen der Menschen folgte, musste er durch mehrere große Tore hindurch; es war unschwer zu erkennen, dass sie für weitaus größere Wesen gedacht waren als ihn. Selbst durch den schmalsten Durchgang hätten problemlos fünf ausgewachsene, von der Erde stammende Braunbären gepasst. Und auch andere Details der Innenarchitektur ließen darauf schließen, dass einstmals voluminöse Körper diese Räumlichkeiten bevölkert hatten.
Wer hatte die Raumstation errichtet, und zu welchem Zweck? War die dichte Wolkendecke, die sie umgab, natürlichen Ursprungs, oder steckte dahinter die wohlüberlegte Absicht, ihre Existenz zu verbergen? Dem, was er sah, ließ sich herzlich wenig entnehmen. Alles war beeindruckend, robust gebaut und unglaublich alt. Was Flinx jedoch weit mehr interessierte als die Frage, ob es noch mehr konnte, als auf Sauerstoff atmende Lebensformen zu reagieren und für die entsprechenden Umweltbedingungen zu sorgen, war der Speicherort der verschwundenen Syb.
Mit erhöhter Vorsicht ging er weiter. Der Stärke der Empfindungen nach zu schließen, die er spürte, hatte er die Lücke zwischen sich und dem Erkundungstrupp der Crotase so gut wie geschlossen. Im Gegensatz zu ihm verfolgten sie kein bestimmtes Ziel und waren daher wesentlich langsamer vorangekommen. Mit geübter Hand zog er lautlos die Pistole aus seinem Gürtel. Ein Fingerschnipsen, und die Waffe war entsichert und ihre Energiespule aktiviert. Seine Hoffnung bestand darin, ein oder zwei Mitglieder zu erwischen, die sich von dem Rest des Teams entfernt hatten, ein oder zwei, die er lang genug separieren und in Schach halten konnte, um ihnen in Ruhe ein paar Fragen zu stellen.
Doch das Schicksal schert sich bekanntlich wenig um die Gemütsruhe derer, denen gewichtige Fragen die Gedanken beschweren. Flinx blieb stehen und starrte in die Richtung, aus der er gedämpfte Stimmen vernahm. Seit er die Verfolgung der Gruppe aufgenommen hatte, hatte er viele widerstreitende Emotionen dieser Leute wahrgenommen und wieder ausgeblendet. Ein Leben voll ähnlicher unvermeidbarer Zusammenstöße hatte ihn befähigt, sie zu sondieren und wieder zu ignorieren.
Doch jetzt, mit einem Mal, spürte er noch etwas anderes – etwas, das so einzigartig, so außergewöhnlich und unerwartet war, dass Pip ihren Schlangenoberkörper reckte und ihrem Begleiter beunruhigt ins Gesicht spähte. Flinx sah sie gar nicht. Überhaupt sah er nur sehr wenig, denn für den Augenblick war er völlig von den soeben erfassten Gefühlen in Anspruch genommen, die ihn restlos verblüfften.
In den gut zwanzig Jahren des intuitiven Erfassens und Analysierens von Emotionen anderer Menschen hatte er Liebe wahrgenommen, hatte Hass und Freude gespürt, Triumph und Verzweiflung, Erleichterung und Entsetzen. Ganze Symphonien des Leids waren wie Flutwellen über ihn hinweggebrandet, und in dicht bevölkerten Städten hatte er so manches Mal mit aller Kraft gegen die erdrückende Langeweile ankämpfen müssen, die das Leben der meisten Menschen beherrschte. Er hatte die exotische, mitunter groteske Gefühlswelt anderer Intelligenzen aufgenommen, und ebenso die einfache, genügsame nicht-vernunftbegabter Wesen.
Doch nur ein einziges Mal, so erkannte er, während sich seine Finger fester um den Griff seiner Waffe schlossen, hatte er bisher jemanden gespürt, der ihm so erschreckend ähnlich war.
15
Diese Erkenntnis änderte alles.
Zuerst dachte Flinx, dass er es sich bloß eingebildet hatte. Immerhin besaß er eine äußerst lebhafte Fantasie, neigte zu Träumen von bemerkenswerter Bandbreite und Tiefe. Keinem Beobachter wäre in diesem Moment ein Vorwurf zu machen gewesen, wenn er geglaubt hätte, Flinx erleide eine leichte Lähmung
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