Die Ecstasy-Affäre
den Wänden, Fotografien, die Robert hatte vergrößern und einrahmen lassen: Karajan, mit geschlossenen Augen dirigierend, ein Bühnenbild, 2. Akt ›Fidelio‹, eine düstere Verließszene, und eine Aufnahme des gesamten Berliner Philharmonischen Orchesters, stehend, den Applaus entgegennehmend. Davor, klein, schmal, weißlockig, mit einem Lächeln, wieder Karajan.
Beim Anblick dieses Fotos erinnerte Habicht sich an einen Abend. Da hatte Robert ein Klavierkonzert unter der Leitung von Karajan im Radio gehört. Solist Rada Lupu. Und Robert hatte, wie einen Traum beschreibend, gesagt: »Einmal mit den Berlinern und Karajan zu spielen … Tschaikowsky, das wäre der Himmel in meinem Leben.« Nun waren beide nicht mehr auf dieser Erde, der eine sogar ermordet.
Habicht blickte sich weiter um. Links und rechts neben dem Fenster standen zwei Gipsbüsten auf einem hölzernen Podest. Wagner und Beethoven. Als irgend jemand – wer, das hatte Habicht vergessen – diese Büsten Robert zum Geburtstag geschenkt hatte, hatte Habicht am Abend gesagt:
»Geschmacklosigkeit läßt sich eben nicht ausrotten! Du willst doch wohl diesen Kitsch nicht aufstellen, Robert?«
Aber Robert plazierte die Büsten doch im Musikzimmer, für Hubert Habicht eine scheußliche Beleidigung seiner Wohnungseinrichtung.
Er wollte sich schon von den Gipsköpfen abwenden, als ihn eine Idee durchzuckte. Ein läppischer Kriminalfilm fiel ihm ein, der vor einiger Zeit im Fernsehen lief. Es ging um Rauschgift – was täten Autoren, wenn es kein Rauschgift gäbe? Sie wären verzweifelt! Raffiniert, wie nun einmal Drogendealer sind, hatte einer der Hauptdarsteller einen Porzellangroßhandel gegründet, importierte kunstvolle Figuren aus allen Ländern, aber jede dritte Figur war innen hohl und mit Heroin vollgestopft. Im Film brauchte die Kripo zwei Stunden, um das zu entdecken. Nach dem Drehbuch war es ein halbes Jahr, in dem neun Tote auf der Strecke blieben.
Eine hohle Figur!
Waren die Gipsköpfe von Wagner und Beethoven auch hohl?
Mit bebenden Händen hob Habicht Beethoven vom Ständer. Die Büste war verhältnismäßig schwer, also massiv. Darin konnte man nichts verstecken. Auch Wagner bestand vollständig aus Gips. Trotzdem hob Habicht die Büste ein Stück vom Sockel.
Und dann stutzte er.
Unter der Wagnerbüste war mit Tesafilm ein Foto angeklebt worden, die Bildseite nach innen. Habichts Blut klopfte in den Schläfen. Noch bevor er das Foto ablöste, wußte er, daß er den Schlüssel zu Roberts heimlichem Leben gefunden hatte. Die Kriminalpolizei hatte die Gipsköpfe nicht in die Hand genommen. Auch versierte Ermittler machen einmal Fehler. Wagners Kopf war ihnen harmlos erschienen,
Habicht zog das Foto ab. Er drehte es um und blickte in das Gesicht einer schönen Frau. Schwarze Haare, dunkle Augen, ein sinnlicher Mund, ein lockendes Lächeln … Das ist sie! So, nur so konnte sie aussehen, die Frau, die Macht über Robert bekommen hatte.
Er fand seinen Eindruck bestätigt, als er die wenigen Worte las, die auf der Rückseite des Fotos standen. Mit einer schnörkeligen Schrift.
Wir gehören zusammen.
Ein klares Bekenntnis, aber kein Name.
Habicht ließ sich auf einen Stuhl sinken. Er drehte das Foto zwischen den Fingern, blickte dieser Frau immer und immer wieder in die Augen. In Augen, die zu ihm zu sprechen schienen: Ja, ich habe euch Robert weggenommen. Ich habe ihn für mich erobert. Ich habe ihn zum Mann gemacht. Er ist mein Eigentum geworden. Wir gehören zusammen … Willst du noch mehr wissen? Die stärkste Macht der Welt regiert zwischen den Schenkeln einer Frau. Sie hat schon Königreiche und ganze Völker vernichtet. Es ist die Urkraft, die alles beherrscht.
Habicht steckte das Foto in seine Brieftasche.
Das Bild der Kriminalpolizei zu übergeben, kam ihm gar nicht in den Sinn. Mit diesem Foto würde er die Frau finden, die seinen Sohn Robert zerstört hatte, und zur Rechenschaft ziehen. Es war eine reine Privatsache, in die ein Wortke oder Reiber nicht hineinreden sollten. Ein Jäger treibt sein Wild nicht in ein fremdes Revier, damit es dort abgeschossen wird. Und Rache ist immer individuell, außerhalb der Norm, oft jenseits des Gesetzes. Das Gesetz, diese lauwarmen Strafandrohungen, diese Streicheleinheiten für Kriminelle! Menschenrecht und Menschenwürde für Menschenverächter und Menschenzerstörer. Für Habicht gab es von diesem Augenblick an keine Gesetze mehr als nur das eine private Gesetz: Rache!
Mein Sohn
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