Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition)
Haut Sonjas erwärmt, zwei Teppiche, die sich aneinander elektrisch aufluden. »Nächste Woche muss ich meinen Job in der Buchhandlung antreten«, sagte Sonja, »in meine Wohnung – in Georgs Wohnung – zurück, ein normales Leben führen.« Ein normales Leben. Was war das? Sie dachte sich ein Fragezeichen auf die Stirn, Sonja küsste es zu einem Ausrufezeichen. »Was denkst du gerade?«
Ich denke gerade so viel, viel zu viel, dachte Oxana und antwortete: »Nichts.« »Kein Mensch denkt nichts«, sagte Sonja und Oxana zog eine Schnute. »Hast Recht. Ich denke an einen Privatdetektiv, den es nicht zu geben scheint, an eine abgelegene Insel, von der sich jemand nicht meldet, an einen alten verlogenen Kauz in einem seltsamen Dorf, an zuviel Alkohol gestern, an deine warme Haut, an...« Weiter kam sie nicht. Sonja verschloss ihr den Mund, öffnete ihn mit ihrer Zunge, inspizierte Zahnreihen, zog mit der Zunge einen feuchten mäandernden Pfad über Kinn, Busen und Nabel. Alles, woran Oxana gedacht hatte, wurde ausgeknipst, eins nach dem anderen, fiel zurück in völlige Dunkelheit, bis nichts mehr geblieben war, keine irdische Existenz mehr, eine himmlische noch, sehr kurz, zu kurz, unendlich lang.
Der Kaffee war kalt geworden, Oxana kochte frischen. Dreizehn Uhr, ein Schlag vom Kirchturm. Die Nachrichten. »Hollywood...« Sie hörten schweigend zu, aufgebackene, noch warme Brötchen in den Händen. »Das hat etwas mit uns zu tun«, sagte Sonja und Oxana nickte. Ein Land schottet sich ab, zieht sich auf sich selbst zurück. Gründe. Was für Gründe? Sie grübelten, kamen zu keinem Ergebnis.
Noch einmal wählte Oxana Vikas Nummer. Jetzt meldete sich nicht einmal mehr die Mailbox. Wieder das Fragezeichen auf der Stirn. »Was ist los?« Oxana schüttelte den Kopf. »Das ist nicht Vikas Art. Sie würde sich melden, wenn sie es könnte. Aber es ist alles – tot.« »Wie auf Island«, sagte Sonja, »da wurden auch sämtliche Verbindungen gekappt.« Oxana schaltete den Fernseher ein, eine Sondersendung zur Lage auf Island, keine neuen Erkenntnisse. Ausschalten. Sich auf das freuen, was kommen würde, der gemeinsame Duschgang, die unvermeidliche Konsequenz, eine weitere Ewigkeit im Himmel, die zu schnell enden würde. Liebte sie am Ende diese Frau? Sie hatte alle Frauen geliebt, mit denen sie geschla fen hatte, solange sie mit ihnen geschlafen hatte. Sie hatte sogar den einzigen Kerl geliebt, der... Mit Sonja war es anders. Sie stellte sie sich als adrette Buchhändlerin vor im geschlechtsneutralen Kostüm, sehr bieder, die Haare zu einem Dutt gebändigt. Musste lächeln. Sah zu Sonja, die auch lächelte. Fragte: »Duschen?« Wurde zum jungen, kecken Mädchen, der ein anderes junges, keckes Mädchen »Joar« entgegenhauchte.
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Wo bin ich und was soll das? Warum liege ich in Unterhosen im Bett? Was für ein Bett ist das eigentlich? Wie spät ist es? Und welcher Idiot hat meinen Radiowecker auf 13 Uhr eingestellt? »Hollywood...« Borsig entschied sich nach einem komplexen, geschätzte zwei Sekunden dauernden Meinungsfindungsprozess, die Augen wieder zu schließen. Jene Augen, die gegen eine fremde Decke starrten, während eine fremde Stimme Befremdliches aus einem fremden Land erzählte.
Befremdlich musste auch der vergangene Abend, die vergangene Nacht gewesen sein, an die sich Borsig nicht erinnern konnte, was Beweis dieser Befremdlichkeit war. »Bauernschenke«, ok. Gesoffen, na klar. Bewusstseinsmäßig abgekackt, logo. Und danach? Wer hatte ihn zurück in die Villa verfrachtet, wer entkleidet und zu Bett gebracht? Keine Ahnung. Nichts als Fragen, keine Antworten, und jetzt erzählte einem die Tante im Radio etwas über Island, wo sich doch der Chef aufhielt. Borsig schaltete das Radio aus, kroch unter übermenschlichen Anstrengungen aus dem Bett in die Armseligkeit seines Zimmers hinein, warf sich in die Klamotten – stanken bestialisch – und pendelte Richtung Bad, das drei Türen weiter lag. Schon beim ersten Schritt im Flur wusste er, dass irgendetwas nicht stimmte.
Es roch anders. Etwas lag in der Luft, man bekam eine pelzige Zunge davon, die Augen tränten beinahe. Aus einem entfernten Winkel des Hauses drangen Stimmen in den Flur, wo sie sich wie ausgehöhlt anhörten, Botschaften aus der Geisterwelt. Borsig verschwand im Badezimmer, zog sich um, stieg in die Duschkabine. Das Wasser attackierte ihn wie einen Todfeind, der kleine Mann duckte sich unter den Schlägen des vielköpfigen Angreifers, dessen
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