Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition)
grinsten in meine Richtung, ich zog mich tiefer in meinen Anorak zurück. War ich nicht vorhin an einem Zeitungskiosk vorbeigelaufen, von dem mir die Schlagzeile »Sozialstudie: Bürgertum verroht immer mehr« entgegengesprungen war? Ich hatte mich mit einem kühnen Sprung zur Seite der Wirklichkeit entzogen, nicht ahnend, dass sie mir nun für vier Haltestellen gegenüber sitzen würde.
»Wahrscheinlich müssen alle Spieler mit Kopftuch antreten«, mutmaßte der eine. Der andere nickte.
»Und wahrscheinlich findet die WM während des Ramadan statt und unsere Jungs dürfen nur nachts ihre Spaghetti mampfen.«
Das Punkmädchen kratzte sich im Schritt und ließ es aussehen wie Masturbation. Ein mächtiger Furz untermalte den Akt akustisch.
»Und die WM 2018 findet in Russland statt.«
»Genau. Als ob es dort noch Russen gäbe. Die sind doch alle hier.«
»Fährst du morgen nach Stuttgart zur Demo?«
»Nö, ich hab Beckenbodengymnastik und dann Vollkorngruppe in der VHS.«
»Schade.«
Gleich würden wir das Industriegebiet erreicht haben und ich war bereit, an Gott zu glauben, um ihm dafür danken zu können. Wieder bremste der Wagen ab, ich stand auf, stellte mich hinter das Punkmädchen, das ebenfalls aussteigen wollte.
»Wenn du mir aufn Arsch haust, Alter, reiß ich dir den Sack ab«, murmelte sie, drehte sich aber nicht um. Also verkniff ich mir den morgendlichen Sex und trat einen Schritt zurück.
20
Das Industriegebiet lag innerhalb des Joseph-von-Eichendorff-Rings wie ein besonders fleißiges Kind in den warmen Armen seiner Mutter. Schnurgerade Straßen, die nach weniger bekannten Vertretern der romantischen Literatur benannt waren, gingen davon ab und führten geradewegs in das Herz von Handel und Wandel. Ich stieg aus und stapfte den Clemens-von-Brentano-Weg hoch, bog dann in die Friedrich-de-la-Motte-Fouque-Straße, passierte den bereits emsig bearbeiteten Großmarkt, überquerte die Kreuzung Ludwig-Tieck-Straße / Novalis-Straße und sah nun schon von weitem den trotz der frühen Stunde hell erleuchteten Container der Arbeitsagentur am Nobelpreisträger-für-Literatur-Günter-Grass-Platz.
Wer als Tagelöhner Arbeit suchte, musste hier vorsprechen und sich registrieren lassen. Mein Name befand sich längst in der Kartei, nun brauchte ich nur noch ein wenig Glück, um einen Job bei Gebhardt und Lonig zu ergattern. Aber eigentlich blieb mir keine Wahl: Ich war pleite und musste nehmen, was vorhanden war.
Links vom Containereingang wartete ein vorweihnachtlich geschmückter Tisch auf die Arbeitssuchenden. Dahinter fröstelte ein arktisch verpacktes Fräulein vor sich hin, ihre Wangen glühten rot, ihr Mund lächelte permafrostig. Über dem Ganzen hing ein von Lichterketten umsäumtes, an Stangen proviso risch befestigtes Transparent: »Leben wie die alten Römer! Werde Mitglied bei Hartz IV!«
Wenigstens gab es Kaffee, Tee und Glühwein, »wir haben auch billigen Schnaps da«, verriet das Fräulein – jetzt als Studentin zuverlässig zu identifi zieren – »damit Ihnen die Entscheidung, Mitglied im Hartz-IV-Club zu werden, leichter fällt!«
Ich entschied mich für Kaffee und blätterte in den ausliegenden Broschüren. »Keine Mindestvertragsdauer! Keine Mindestabnahme von Staatsknete!« Die Welt war schon verrückt, aber wir lebten im Kapitalismus, jeder konkurrierte mit jedem, die Arbeitsplatzbesitzer mit den Arbeitssuchenden, die Bezieher von Arbeitslosengeld I mit den Beziehern von Arbeitslosengeld II. Wer sich hier frühmorgens einfand, um einen miserabel bezahlten Job als Tagelöhner oder, wie es euphemistisch hieß, Eintagsfliege des Arbeitsmarktes anzunehmen, torpedierte die Anstrengungen der Gesellschaft, wohltätig gegenüber den Armen zu sein. Das wiederum gefährdete Arbeitsplätze bei den sogenannten ARGEN, die so hießen, weil sich deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter allmorgendlich mit dem Wortspiel aufheiterten, ohne die ARGEN läge vieles im Argen. Sie waren hinter neuen Mitgliedern her wie jeder hundsgewöhnliche Sportverein oder Buchclub, sie fischten nach armen Seelen, an denen sich dann die Großpolitiker und die allgegenwärtige Leistungsträgerschaft abarbei ten konnten. Wie sagte doch einmal ein großer Denker? Ohne die armen Schweine kein Saustall, ohne Saustall keiner, der den Saustall ausmisten kann, ohne jemanden, der den Saustall ausmistet, keine politische Partei, ohne politische Partei keine Demokratie. Ich trank meinen Kaffee aus und nahm an, dass der Satz von
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