Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition)
hatte, dem Vika auf dem Friedhof begegnet war: Schnüffel. Wette gewonnen, aber niemand bekam es mit. Banausenrepublik. Wenigstens ein paar Stunden als Held. Welcher Krimiautor konnte sich schon glücklich schätzen, von schönen Frauen bewundert zu werden?
»Er tigert wieder«, stellte Oxana fest und zog Sonja Webers Kopf fester zwischen ihre Brüste. Sie lagen nebeneinander wie Geschwister, nicht wie ein Liebespaar. Zwei Menschen, die sich gegenseitig wärmten und be schützten. Mit Vika war noch einmal telefoniert worden, die Verbindung miserabel, nach fünf Minuten unterbrochen. Doch nicht normal so was. Aber gute Arbeit von der Kleinen, etwas anderes hatte Oxana auch gar nicht erwartet. Ein Stich ins Herz dennoch. Vika. Sonja. Eine Entscheidung musste fallen.
Nicht jetzt. »Stell dir vor«, erzählte Oxana, »diese Schweizer Tänzerin, diese Mareike, ist im Café richtig aufgetaut. Eine einzige Schimpfkanonade auf die Company. Nichts wie pseudoromantischer Quatsch, Elfen und so, volkstümliches Herumgehopse, wofür sie die neue Leiterin verantwortlich macht, eine gewisse Claire Quilty.« Sonja kicherte. »Wie heißt die? Claire Quilty? Oh mein Gott, das ist bestimmt ein Künstlername.« Verstand Oxana jetzt nicht, war aber auch egal. Diese Mareike jedenfalls – »stockschwul«, hatte Vika sie genannt und Oxana sich gewundert, woher plötzlich all diese Lesben kamen – diese Mareike also erzählte Vika von den Anfängen der Tanzcompany, davon, wie vor fünf Jahren ein paar hoffnungslose Idealisten sich zusammentaten, um die alten Tänze zu bewahren. The Jersey Folk & Dance Company, so der erste Name des Ensembles. Leider, leider habe sich dem immer mehr Mystizismus beigemischt, schließlich der Quatsch mit den Elfen. »Und wieso heißen die heute 'Pixies of the Iceland'?«, fragte Sonja und ließ ihre Lippen ein paar mar kante Punkte auf Oxanas Brust besteigen, »was hat das mit Island zu tun?« Oxana lachte. »Eben. Gar nichts, sagt diese Mareike. Iceland heißt einfach nur Eisland, keiner weiß mehr warum, aber kein Bezug zu Island.«
Dennoch merkwürdig. Fanden beide. »Gerade probt das Ensemble für das jährliche Tanzfest in den Straßen von St. Helier. Hunderte, in manchen Jahren Tausende, die sich den Tänzern anschließen, alle in Phantasiekostümen. Dieses Jahr, so Mareike, aber von solcher Schmalzigkeit, dass sie nicht mitmache. Nichts wie Elfen in hauchdünnen Klamotten, schwülstige Musik und eitel Sonnenschein. Früher sei die Gruppe durchaus politisch gewesen, Bewahrung der eigenen Traditionen, Loslösung von England, Kontakte zu den Autonomiebewegungen in der Bretagne – frag mich nicht, ich bin da nicht firm. Jedenfalls: Alles sehr harmlos wohl.«
Sie lagen jetzt still beieinander, aus den Geschwistern wurden Liebende, Sonja drängte, Oxana ließ sich bedrängen. Vika. Sonja. Vielleicht würde Vika mit dieser Mareike... Das würde das Problem lösen.
Marxer tigerte noch immer, murmelte, Oxana stellte ihn sich vor, mit erhitztem Kopf, in dem die merkwürdigsten Dinge vorgingen. Was hatte eigentlich auf dem Zettel gestanden, den Marxer hinterlegt hatte? Wirklich den Name Schnüffel? Zuzutrauen war ihm das. Dann war plötzlich Stille. Nur das zunehmende Keuchen Sonjas, das Geräusch ihrer forschenden Zunge. Gleich geht’s los, dachte Oxana und hielt den Atem an. Legte eine Hand auf Sonjas Hinterkopf, streichelte ihn beruhigend, denn gleich würde sie erschrecken. So was es auch. Ein lauter Schrei schnitt in die Stille, ein heiseres »Heureka!« erscholl vom Flur, Sonja zuckte zusammen. »Keine Panik, mein Schatz«, beruhigte Oxana. »Er hat nur wieder einmal eine Geschichte zusammengeschlurft.«
276
Ich musste schlecht geträumt haben, denn als ich aus dem Schlaf schreckte, zitternd und hoch aufgerichtet in meinem Bett sitzend, pulste mir kalter Schweiß aus allen Poren. Was ich geträumt hatte, wusste ich nicht mehr. In meinem Kopf hockte ein einziges Wort, ein Wort in Großbuchstaben, neonbunt und penetrant flackernd, eine Bandenwerbung beim Fußball, eine PR-Action meines Unterbewussten. KOMPLOTT!
Die Dinge verknüpften sich, die Bausteine fügten sich zu einem sinistren Gebilde, von einem panischen Maurer zähneklappernd geschichtet und vermörtelt: die Atomkrise, die Klimakrise, die Wirtschaftskrise, die Sinnkrise: alles war eins! Die Welt war aus den Fugen geraten und um sie zu retten, brauchte man wie immer eine finale Katastrophe, einen endgültigen Zusammenbruch. Weltkrieg? Zu
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