Die Eheprobe
Fortschritts vergeht eine Grippe normalerweise in vierundzwanzig Stunden, sodass ich mich, wenn Peter morgens mit Fieber aufwacht, so fühle, als hätte ich unerwartet schulfrei bekommen. Gerade als wir es uns auf der Couch gemütlich gemacht haben, kommt ein schweiÃgebadeter William ins Wohnzimmer.
»Mir geht es auch nicht besonders«, sagt er.
Ich seufze. »Du kannst unmöglich krank sein. Pedro ist krank.«
»Was wahrscheinlich der Grund dafür ist, dass ich krank bin.«
»Vielleicht hast du mich angesteckt«, sagt Peter.
Ich lege meine Hand auf Peters Stirn. »Du glühst ja regelrecht.«
William schnappt sich meine andere Hand und legt sie auf seine Stirn.
»37,2, maximal 37,7«, sage ich.
»Müssen wir die Kochsendungen gucken, wenn Dad krank ist?«, fragt Peter.
»Wer zuerst krank war, bekommt die Fernbedienung«, bestimme ich.
»Ich bin sowieso zu krank, um vor der Glotze zu sitzen«, sagt William. »Mir ist schwindlig. Ich frag mich, ob das so ein Innenohr-Dings ist. Ich mach jetzt mal ein Nickerchen. Weckt mich, bevor die Barefoot-Contessa-Kochshow losgeht.«
Ich habe eine Vision, wie in Zukunft meine Tage ablaufen werden. William sitzt auf der Couch. Ich denke mir Ausreden aus, um ohne ihn das Haus zu verlassen, und sie haben alle mit Frauenleiden zu tun. Benötige dringend Binden. Gehe zum Pap-Viren-Abstrich. Besuche einen Vortrag über bioidentische Hormone.
»Könntest du mir in einer halben Stunde ein paar Scheiben Toast bringen?«, ruft mir William quer durchs Treppenhaus auf dem Weg nach oben zu.
»Möchtest du auch etwas Orangensaft?«, brülle ich zurück und fühle mich dabei schuldig.
»Das wäre echt nett«, schallt seine geisterhafte Stimme zurück.
Der Film The Sixth Sense ist mein absoluter Lieblingsfilm. Ich mag keine Horrorfilme, aber dafür liebe ich Psychothriller. Ich bin ein groÃer Fan von überraschenden Wendungen. Leider gab es bis zu diesem Augenblick nie jemanden unter meinem Dach, der bereit war, diese Filme mit mir anzusehen. Als Peter endlich in der vierten Klasse war und Die Abenteuer des Käptân Superslip zum elften Mal durchlas, gründete ich einen Mutter-und-Sohn-Kurzgeschichten-Club, der in Wahrheit ein Mutter-züchtet-sich-Sohn-zum-gruselige-Filme-gucken-heran-Club war. Als Erstes lieà ich ihn Die Lotterie von Shirley Jackson lesen.
»Darin gehtâs um Kleinstadt-Politik«, erklärte ich William.
»Darin gehtâs um eine Mutter, die vor ihren Kindern zu Tode gesteinigt wird«, sagte William.
»Das soll Peter selbst entscheiden«, sagte ich. »Lesen ist eine durch und durch subjektive Erfahrung.«
Peter las den letzten Satz der Geschichte laut vor â »und dann fielen sie über sie her« â, zuckte mit den Achseln und widmete sich wieder Käptân Superslips unglaublichen Abenteuern. Da wusste ich, dass er wirklich das Zeug dazu hatte. In der fünften Klasse gab ich ihm Ursula Le Guins Die Omelas den Rücken kehren und in der sechsten Flannery OâConnors Ein guter Mensch ist schwer zu finden . Mit jeder Kurzgeschichte bekam er ein dickeres Fell, und jetzt, im Frühling seines zwölften Lebensjahres, ist mein Sohn endlich bereit für The Sixth Sense.
Ich beginne, den Film von der Netflix-Seite herunterzuladen.
»Du wirst ihn lieben. Der Junge ist irgendwie so unheimlich. Und am Ende kommt diese unglaubliche Wendung.«
»Es ist aber kein Horrorfilm, oder?«
»Nein, man nennt das einen Psychothriller«, kläre ich ihn auf.
Eine halbe Stunde später frage ich ihn: »Ist das nicht toll? Er sieht tote Menschen.«
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich diesen Film mag«, sagt Peter.
»Wartâs ab â es kommt noch besser.«
Eine Dreiviertelstunde später fragt Peter: »Warum hat der Junge keinen Hinterkopf mehr?«
Zwanzig Minuten später sagt er: »Die Mutter bringt ihre Tochter um, indem sie ihr Bohnerwachs in die Suppe kippt. Du hast mir versichert, dass das kein Horrorfilm ist.«
»Ist es auch nicht. Versprochen. AuÃerdem hast du doch Ein guter Mensch ist schwer zu finden gelesen. Die Geschichte ist viel schlimmer als das hier.«
»Das ist etwas ganz anderes. Es ist eine Kurzgeschichte. Da gibt es keine Bilder oder gruselige Musik dazu. Ich möchte das nicht länger anschauen.«
»Du hast es bis hierher geschafft. Jetzt musst du
Weitere Kostenlose Bücher