Die Ehre der Slawen
überschritten hatte. Glatt nach hinten gekämmt wurde die Haarpracht von einem silbernen Stirnreif in Form gehalten. Um die Kinnpartie trug der Mann einen sorgfältig gestutzten Rundbart, der jedoch im Gegensatz zu seinem hellen Haupthaar noch in einem kräftigen Schwarz schimmerte. Im Rhythmus seiner Schritte pochte ein langer, spiralförmig gewundener Stab auf dem hölzernen Boden. Was Udo aber nicht so genau sehen konnte, das waren die vier kleinen Gesichter, welche in das obere Ende des Stabes geschnitzt waren und ihm damit einen ganz besonderen Status verliehen. Hoch erhobenen Hauptes schritt der Alte langsam und würdevoll den Wehrgang entlang, bis er sich dem unerwünschten Gast genau gegenüber befand.
Im Gefolge des stolzen Wenden befand sich außerdem ein kleiner pausbäckiger Junge. Sein Kopf reichte nur knapp über die Palisadenspitzen, aber Udo konnte genau sehen, wie der dicke Lausebengel dem Alten ständig etwas zuflüsterte. Auch erschienen nun nacheinander ein gutes Dutzend Bogenschützen auf dem Wehrgang. Männer aller Altersgruppen und sogar zwei Frauen waren unter ihnen. Der bunt zusammengewürfelte Bauernhaufen täuschte Udo jedoch nicht über seine Gefährlichkeit hinweg. Letztendlich war und blieb es auch völlig egal, ob ein tödlicher Schuss von einem Greis oder von einer jungen Frau ausging, solange der Pfeil nur von einer sicheren Hand abgeschossen wurde. Alle Schützen hatten einen langen Pfeil auf die Sehne gelegt, hielten ihre straff gespannten Bögen jedoch gesenkt. Noch!
Übellaunig erkannte Udo auf dem ersten Blick, dass die Pfeile mit langen Stahlspitzen versehen waren. Sie gehörten zu jener üblen Sorte, die auf kurzer Distanz selbst ein solides Kettenhemd durchbohren konnten.
Schweigend und sich gegenseitig abschätzend musterten sich die beiden Kontrahenten.
»Ich bin Milosc von Morcze«, rief der Alte schließlich mit fester Stimme von der Palisade herunter, »Herr und Beschützer der nördlichen Siedlungen des Kleinen Meeres. Und wie darf ich Euch nennen und welches ist Euer Begehr?«
»Ihr dürft mich ‘edler Ritter’ nennen oder auch ‘hoher edler Herr Ritter’, wenn Euch diese Anrede gefälliger erscheint.«
Verhaltenes Gelächter erklang in den hinteren Reihen seiner Soldaten.
»Ich bin hier, weil ich für mich und meine Männer das Gastrecht fordere. Und ich stehe hier vor Euch im Auftrage und Namen des Herrn über die Nordmark, des edlen Markgrafen Dietrich. Ich bin beauftragt, die fälligen Tribute, die ihr Eurem Herrn und Beschützer schuldig seid, entgegenzunehmen. Öffnet das Tor, gewährt uns Einlass, Speis und Trank, ein gutes Lager für die Nacht und lasst uns morgen, in der Frühe über die Höhe der Steuern verhandeln. Wenn wir uns schnell und gütigst einig werden, so sollt Ihr mein Wohlwollen erlangen und ich will bei meiner Rückkehr ein gutes Wort für Euch einlegen.«
Ohne eine Miene zu verziehen, ließ Milosc den dreisten Steuereintreiber ausreden. Sein zur steinernen Maske erstarrtes Gesicht blickte hart und kalt, als er zu einer Antwort ansetzte: »Ich weiß, dass unsere Heiligen Gesetze mir keine andere Wahl lassen als Euch Gastfreundschaft zu gewähren und ich weiß, dass ich dem deutschen Kaiser den Zehnten unserer Ernte als Steuern zahlen muss, will ich keinen neuen Krieg heraufbeschwören.«
»So ist es!«, frohlockte Udo und glaubte, das Spiel leichter gewonnen als gedacht.
Der kleine pausbäckige Junge flüsterte seinem Fürsten wieder etwas zu, was Udo allerdings nicht verstehen konnte.
»Aber«, wandte Milosc ein, nachdem der kleine Junge geendet hatte, »so ist es Sitte bei uns, dass der Gast seine Waffen niederlegt, bevor er ein gastfreundliches Haus betritt.«
»Was …? Wollt Ihr mich und meine Männer etwa nackt einlassen?«
Unbeirrt sprach der stolze Slawenfürst weiter: »Für Euch und zehn eurer Gefährten werde ich ein gutes Mahl und Nachtlager in unserem Dorfe zu finden wissen. Für die anderen Leute eures Gefolges und auch für diejenigen«, er machte eine Pause und deutete mit seinem Stab zum Wald hinüber, »für diejenigen, die sich noch im Wald verborgen halten, will ich Speis und Trank bereithalten. Ich werde sie allerdings vor das Tor stellen und zwar dann, wenn ich im Umkreis von dreihundert Schritten keinen Krieger mehr sehe, der ein Schwert, Schild oder eine Lanze trägt.«
»Was …? Bist du von Sinnen Alter?«, fühlte sich Udo überrumpelt.
»Entweder du lässt jetzt auf der
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