Die Eifelgraefin
rate ich auch dir. Ich fürchte, wir werden in nächster Zeit noch all unsere Kräfte brauchen.»
***
Luzia blieb keuchend neben der großen Linde an der Bernharduskapelle stehen und blickte sich um. Sie hatte Glück gehabt. Die Wachleute hatten gerade wieder damit begonnen, das Tor zu schließen, waren jedoch durch irgendetwas abgelenkt worden. Offenbar war einer von ihnen zusammengebrochen. Luzia mochte sich gar nicht vorstellen, was nun mit ihm geschah. Wenn auch er die Pest hatte, war sein Schicksal wohl besiegelt.
Die Nacht roch würzig nach Gras und der Sonne, die die Erde den ganzen vergangenen Tag über gespeichert hatte.Luzia sog die Luft tief in ihre Lungen und versuchte sich zu beruhigen. Dann rannte sie wieder los.
Jetzt, da sie auf dem Weg nach Blasweiler war, hatte sie das Gefühl, von einer inneren Stimme zur Eile angetrieben zu werden. Sie kannte den Weg; nicht sehr gut zwar, doch in der mondhellen Nacht war es nicht schwierig, die wenigen wichtigen Landmarken auszumachen. Nachdem sie die Kohlstraße erreicht hatte, ging es dann fast nur noch geradeaus. Sie kannte eine alte Abkürzung über einen Acker, und nach kaum mehr als anderthalb Stunden erblickte sie die ersten Dächer von Blasweiler.
Sie stieg den letzten Hügel so rasch hinab, dass sie mehrmals beinahe stürzte. Inzwischen war das Mondlicht der langsam einsetzenden Morgendämmerung gewichen, die die Landschaft in ein unwirkliches graublaues Licht tauchte.
Schweigend und mit wild pochendem Herzen durchquerte Luzia das Dorf auf dem Hauptweg. Gespenstische Stille lag über den Holzhütten und wenigen Steinhäusern. So früh am Tag waren nicht einmal die fleißigsten Seelen schon wach. Sie passierte die kleine Kirche mit dem Friedhof, ohne sie zu beachten. Je näher sie dem Hof ihrer Eltern kam, desto nervöser wurde sie. In Blasweiler schien alles friedlich zu sein. Hatte sie sich umsonst Sorgen gemacht?
Friedlich. Sie blieb stehen und starrte auf die Tür einer Hütte. Ein wenig zu friedlich vielleicht? Plötzlich wurde ihr bewusst, dass jene Tür mit zwei überkreuzten Brettern vernagelt war. Und die der Hütte daneben genauso.
Es dauerte eine Weile, bis Luzia den Sinn begriff, doch dann packte sie das kalte Entsetzen. Im langsam zunehmendenTageslicht erkannte sie, dass fast alle Hütten vernagelt waren.
Luzia schluckte und kämpfte die plötzlich aufsteigende Übelkeit herunter. Ohne noch weiter auf die Hütten zu achten, hastete sie zum Hof ihrer Eltern und spürte ein Gefühl tiefer Erleichterung, denn an der Haustür gab es keine überkreuzten Bretter. Sie war jedoch verschlossen, und so pochte Luzia mit neuem Mut kräftig gegen das schwere Eichenholz.
Nichts rührte sich, auch nicht, als sie noch lauter klopfte. Sofort war die Übelkeit wieder da. Luzia bemühte sich, sie zu ignorieren, und ging beherzt zur Hintertür. Doch auch diese war fest verschlossen, ebenso wie die Fenster. Ratlos sah sie sich um und entdeckte schließlich neben dem Stalleingang die große Leiter ihres Vaters, mit der er im Herbst in die Obstbäume kletterte. Entschlossen lehnte sie sie gegen die Hauswand und stieg behände hinauf. Sie wusste, dass die kleine Dachluke zu ihrer Schlafkammer sich nicht richtig verschließen und von außen leicht öffnen ließ. Mehr als einmal hatte sie als Kind diesen Umstand genutzt, um spätabends heimlich aus dem Haus zu schlüpfen und dann mit den Nachbarskindern in einem der Bäche oder gar im Mühlteich zu baden.
Als irgendwo in der Nähe ein Hahn krähte, zuckte sie erschrocken zusammen, fing sich jedoch gleich wieder und fingerte an dem Fensterladen, der die Dachluke verschloss. Er ließ sich problemlos öffnen. Schwieriger war es, durch das Fenster ins Haus zu klettern, denn erstens war sie mittlerweile kein Kind mehr, sondern eine erwachsene Frau, und zweitens behinderte sie der weite Rock ihres Kleides.Doch nach einigen erfolglosen Anläufen schaffte sie es, durch die Luke in ihre alte Schlafkammer zu klettern. Während sie sich den Staub abklopfte, blickte sie sich neugierig um. Nichts hatte sich verändert. Ihr Bett, die Truhe für ihre Kleider – ja sogar die Sammlung merkwürdig geformter Steine, die sie eine Zeit lang gesammelt und auf Dachstreben aufgereiht hatte –, alles war noch so, wie sie es vor fast einem Jahr hinterlassen hatte. Sie riss ihren Blick jedoch wieder davon los, öffnete die niedrige Tür und kletterte die steile Stiege hinab in die Stube.
«Mutter? Vater? Seid ihr da?», rief sie
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