Die Eifelgraefin
die Knie fiel. «Trinchen», murmelte sie und legte ungläubig ihre Hände auf den Erdhügel. «Nicht du, Trinchen. Nicht du!»
Sie streckte eine Hand nach dem Püppchen aus, berührte es aber nicht, sondern erstarrte mitten in der Bewegung. Ihr Blick war an dem Kreuz auf dem Nachbargrab hängengeblieben. Ein Doppelgrab, das konnte man an dem breiteren Grundriss und höheren Hügel erkennen. Auf die Mitte des Kreuzes hatte jemand recht ungelenk mit Pechfarbe einen Baum aufgemalt – das Hauszeichen der Familie Bongert.
Mit weit aufgerissenen Augen rutschte Luzia auf allen vieren hinüber zu dem Grab, kroch halb darüber und umfasste das Holzkreuz. Mit der anderen Hand fuhr sie zittrig über den Baum. Die Farbe glänzte, war jedoch längst getrocknet.«Vater …» Ihre Stimme versagte. «Mutter. Ihr liegt nicht hier. Das kann nicht sein!» Doch das Zeichen auf dem Kreuz war eindeutig. Nichts anderes bezeugte es, als dass Luzias Eltern hier begraben lagen – neben ihrer Schwester.
Luzia ließ das Kreuz los und umschlang mit den Armen ihren Leib. Dennoch hatte sie das Gefühl, in tausend Stücke gerissen zu werden. Sie war zu spät gekommen. Zu spät, um etwas zu tun, zu spät, um Abschied zu nehmen. Zu spät … Ihrer Kehle entrang sich ein schriller Schrei, der jedoch sogleich wieder abbrach und in ein trockenes Schluchzen überging. Von einer Welle des Schmerzes erfasst, ließ sich Luzia einfach vornüberfallen und drückte ihr Gesicht in die lockere Erde des Grabhügels. So verharrte sie eine lange Weile. Keinen Muskel bewegte sie, obwohl sie kaum Luft bekam. Und sie nahm auch nicht die Schritte wahr, die sich ihr näherten. Erst als sich eine Hand auf ihre Schulter legte, schrak sie hoch.
«Luzia, Kind, bist du das?»
Luzia hob den Kopf und blickte in das schmale, faltige Gesicht des Dorfgeistlichen. Vater Anselms Miene drückte neben Überraschung auch höchste Besorgnis aus, als er sie erkannte. «Bei allen Heiligen, du bist es wirklich!» Er nahm sie am Arm und half ihr auf. «Komm, Kind, begleite mich ins Pfarrhaus. Ich werde …»
«Wann, Vater Anselm?» Luzia wischte sich unbewusst etwas Schmutz aus dem Gesicht. «Wann sind sie …?»
«Vor einer Woche.» Der Pfarrer seufzte. «Ich hätte dir ja einen Boten geschickt, aber es fand sich keiner, und ich konnte doch hier nicht fort.» Müde rieb er sich die Augen,und erst jetzt bemerkte Luzia, wie erschöpft und ausgemergelt er aussah.
Unschlüssig blickte sie wieder auf das Grab ihrer Eltern. «Tünn», sagte sie tonlos. «Wo …?»
«Tünn lebt», beeilte sich der Pfarrer zu antworten. «Er ist bei mir im Pfarrhaus. Erst dachte ich, er sei auch krank, doch es war wohl nur die Erschöpfung. Luzia, dein Bruder hat sich aufopferungsvoll um eure Eltern und deine Schwester gekümmert – bis zum Schluss. Doch dann ist er zusammengebrochen.»
«Tünn.» Luzia spürte dem winzigen Glücksmoment nach, der in ihr auflebte. «Ich muss zu ihm!»
«Natürlich, Kind. Komm, ich bringe dich hin.» Vater Anselm winkte ihr und ging voraus.
***
Als Johann Blasweiler erreichte, ließ die Sonne bereits den Tau auf Büschen und Gräsern glitzern und versprach, die morgendliche Kühle alsbald zu verscheuchen. Vor dem Hof der Familie Bongert zügelte er sein Pferd und stieg ab. Er versuchte, die Haustür zu öffnen. Da sie jedoch fest verschlossen war, ging er hinüber zum Stall. Das Tor stand ein Stück offen, und als er hineinging, wurde ihm auf den ersten Blick klar, was hier geschehen war. Er fluchte leise, als er auf eine verendete Ratte trat. Doch er ging noch weiter in den Stall hinein, denn es war immerhin möglich, dass sich Luzia hier aufhielt. Außer Resten von Mist und Heu konnte er nichts erkennen. Irgendwo raschelten Mäuse – oder weitere Ratten – in den Ecken. Eine Mücke surrte um seineOhren, und er schlug geistesabwesend nach ihr. Als er erneut beinahe auf einen Kadaver, diesmal den einer Katze, trat, erfasste ihn heftiger Ekel, und er verließ den Stall rasch wieder.
Die vielen toten Bauern waren ein herber Verlust für Simon. Doch an die Trauer, die die Überlebenden nun in sich trugen, wollte Johann erst gar nicht denken. Er wusste selbst zur Genüge, wie es sich anfühlte, einen geliebten Menschen zu verlieren. Energisch wendete er sein Reittier und richtete seine Gedanken auf das, was ihn hierhergeführt hatte. Er wollte Luzia finden. Es war verrückt, dass er sich überhaupt bereit erklärt hatte, sie zu suchen, anstatt sich
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