Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
Stramme Nazis, aber sehr liebevoll, sagte meine Mutter. Als der Krieg vorbei war, wusste sie nicht mehr, dass sie gar kein deutsches Kind war. Erst als ihre richtigen Eltern sich an das polnische Rote Kreuz wandten und Nachforschungen anstellen ließen, kam die Wahrheit ans Licht. Alicja wurde zurück nach Legnica gebracht. Sie war acht Jahre alt und konnte kein einziges Wort Polnisch.«
»Scheiße«, sagt Simon. »Ich ahne, was jetzt kommt.«
»Richtig. Alicja hatte Heimweh nach Deutschland und nach ihren deutschen Eltern. Ihre polnischen Eltern waren ihr fremd, und umgekehrt war es genauso. Die Kinder aus dem Dorf nannten sie Niemka, Deutsche, und gern auch mal Fräulein Hitler. Es muss schlimm gewesen sein. Nachdem sie mit der Schule fertig war, ging sie nach Lodz und machte eine Lehre als Schneiderin. Sie wollte weg, nur weg. Ende der Fünfzigerjahre wurde es leichter, Polen zu verlassen. Der Antrag meiner Mutter wurde genehmigt. Sie kehrte 1961 nach Deutschland zurück, da war sie gerade einundzwanzig geworden. Und dann passierte ihr noch mal das Gleiche wie dreizehn Jahre zuvor: Sie war wieder eine Fremde und gehörte nicht dazu. Ein kleines Polackenmädchen im Wirtschaftswunderland. Mit ihren deutschen Pflegeeltern von damals ging auch nichts mehr. Scham, Schuld, Verdrängung, all das Zeug. Sie waren wohl halbwegs ungeschoren aus der Sache herausgekommen und wollten sich nicht mehr mit ihrer Vergangenheit befassen.«
Unser Hauptgang wird serviert. Der Salat davor war mittelmäßig gewesen, aber die Gemüselasagne sieht aus wie eine Gesteinsprobe und schmeckt auch so. Ich bin zu hungrig, um Theater zu machen und etwas anderes zu verlangen, und ich sehe Simon an, dass es ihm ähnlich geht. Zum Glück ist der Wein gut. Und ich stelle fest, dass es mir zu gefallen beginnt, Simon Alicjas Geschichte zu erzählen.
»Aber pass auf, ab jetzt wird es irre romantisch. Ende der Sechzigerjahre lernten sich auf einer Party der attraktive, frisch diplomierte BWLer Klaus und die kleine rotblonde Schneiderin Alicja kennen. Es war natürlich Liebe auf den ersten Blick. Aber nicht nur das, von Alicjas Künsten an der Nähmaschine war Klaus mindestens genauso hingerissen. Er brachte sie dazu, eine kleine Kollektion von Hippieklamotten zu nähen, und Rüschenfolklore, die hatte meine Mutter drauf, da schlug wohl ihr polnisches Erbe durch. An den Wochenenden verkauften sie das Zeug auf Flohmärkten und hatten rasenden Erfolg damit. Als Alicja dann auch noch mit Stickornamenten anfing, drehten die Leute völlig durch. Mein Vater hatte ein intelligentes Marketingkonzept, und anderthalb Jahre nach der ersten Rüschenbluse war die Marke ›Edel-Klamotten‹ entstanden, Edel wie der Nachname meines Vaters, und ein kleines Unternehmen mit zunächst mal drei Angestellten wurde gegründet.«
»Ich finde das bis jetzt sehr spannend, aber nur mäßig romantisch«, sagt Simon.
»Jetzt warte doch. Ich bin gerade bei der Überleitung. Sie waren nämlich nicht nur erfolgreich im Geschäft, sondern auch noch das größte Traumpaar aller Zeiten. Es war die perfekte Symbiose. Keiner konnte oder wollte ohne den anderen sein. Meine Mutter betete meinen Vater geradezu an. Ich denke mal, sie musste irgendwie diese ganzen Verluste aus ihrer Kindheit kompensieren. Klaus war ihr sicherer Hafen. Und er hatte so eine kindliche, vernarrte, alles verzeihende Art, sie zurückzulieben. Sie waren immer so sehr ineinander verflochten, dass es mir ein Rätsel ist, wie sie überhaupt die Zeit fanden, dieses Imperium auf die Beine zu stellen. Verhandlungen oder Mitarbeiterbesprechungen zogen sie Hand in Hand durch. Ich bin sicher, sie haben viele damit genervt, aber jeder hat ihnen abgenommen, dass es echt war. Und als Krönung dieser Liebe erschien dann zwei Jahre später, tata – warte mal kurz.«
Ich schiebe das harte, kalte Käsedach meiner Lasagne mit dem Messer zur Seite und halte nach dem Kellner Ausschau.
»Jetzt keine Pause«, bittet Simon. »Wenn du allen Ernstes noch einen Nachtisch willst, musst du das später machen. Ich will wissen, wie es weitergeht. Krönung, hast du gesagt.«
»Ich wollte eigentlich mehr Wein. Aber gut. Ein Kind auf der Hüfte stand Alicja ganz ausgezeichnet, zumal sie ihr Repertoire auf Umstandsgewänder und Babytragetücher ausgeweitet hatte, aus naheliegenden Gründen. Und es wurde ein Kindermädchen eingestellt, schließlich musste der Laden ja laufen, und meine Mutter gab nichts aus der Hand, was Design und Stoffe
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