Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
verabschiede wie Freunde, die zu Besuch waren. Wenn sich die Wagentür hinter ihnen geschlossen hat, stehe ich da und winke ihnen hinterher. Dann versuche ich zu schlafen. Es funktioniert.«
»Ist schon mal ein Taxi wiedergekommen?«
»Ja. Aber meistens geht es nur darum, dass jemand noch schnell was sagen will. Oder was liegen gelassen hat. Mein Vater vergisst oft seinen Trenchcoat auf meinem Bett. Und du glaubst es nicht, das Ding ist immer klatschnass.«
»Ich liebe dich, Mila«, sagt Simon.
7.
Ich hätte von Alicja und Klaus träumen können, von polnischen Landschaften und roten tanzenden Kleidern oder einem Mann, der »Ich liebe dich« zu mir sagt. Selbst eine weinende Connie wäre naheliegender gewesen als dieser Traum aus der Serie Verdammt-ich-hab-ja-gar-kein-Abitur, deren Dramaturgie immer dieselbe ist: Ich werde in Situation A von Person B überraschend mit der Tatsache konfrontiert, dass ich in Fach C entweder durchgefallen bin oder gar nicht erst geprüft wurde und somit nie die Hochschulreife erlangt habe, und mein Entsetzen ist jedes Mal grenzenlos, weil das bedeutet, dass ich wieder zur Schule gehen muss. Diesmal ist es ein U-Bahn-Kontrolleur, der es sofort am Stempel meiner Fahrkarte erkennt. Offenbar hat er mit mir gerechnet, denn in seinem Rucksack steckt das gesamte Beweismaterial: halb fertige Klausuren, Matheaufgaben ohne Lösungen, abgebrochene chemische Formeln, alles eindeutig meine Handschrift. Er gibt mir vierundzwanzig Stunden, um die Unterlagen vollständig bei ihm abzuliefern, und seinem Grinsen entnehme ich, dass er genauso wenig daran glaubt wie ich, dass ich das schaffe. Vierundzwanzig Stunden. Nie im Leben.
Es ist dämmrig im Zimmer, ich habe keine Ahnung, wie spät es sein könnte. Simon hat mir den Rücken zugekehrt und atmet leise und gleichmäßig. Draußen heult der Wind. Ich merke, dass noch ein Rest Verzweiflung aus meinem Traum an mir haftet, und je wacher ich werde, umso überzeugter bin ich, dass dieses Vierundzwanzig-Stunden-Abi-Ultimatum nichts anderes als eine Botschaft aus meinem peniblen Buchhalter-Unterbewusstsein war: Mila, dein letzter Tag mit Simon! Nutze die Zeit! Als ob man mir so was vorrechnen müsste.
Irgendwo tief in meinem Schädel lauern Kopfschmerzen, die mich an mein gestriges Saufgelage erinnern. Ich rutsche ganz nah an Simon heran, bis ich mein Gesicht an seine Schulter legen kann, und Simon greift mit einer trägen Bewegung hinter sich und legt seine Hand auf meine Hüfte, warm und fest. Lange Zeit rühren wir uns nicht. Gerade als ich denke, dass er wieder eingeschlafen ist, beginnt Simon sich zu regen, er streckt sich und dreht sich langsam zu mir um und sagt gut gelaunt »Hallo, Geräuschprinzessin«, und ich antworte »Hallo, Simon« und finde es schade, dass mir zum Kontern kein passender Name für ihn einfällt. Wir liegen auf der Seite und sehen uns an, die Gesichter nur wenige Zentimeter voneinander entfernt, und in Simons Augen wechseln sich Zustände ab wie auf einem flackernden Bildschirm: Lächeln, Zärtlichkeit, Irritation, Besorgnis, Mitgefühl, höchste Alarmbereitschaft. Ich weiß nicht, ob es seine Antworten sind auf das, was er in meinem Gesicht zu lesen bekommt. Ich befürchte es. Immer diese Traurigkeit, ich habe keine Lust auf meine Traurigkeit, ich will unseren letzten Tag nicht damit zubringen, die verbleibenden Stunden runterzuzählen. Ich sage: »Ich habe geträumt, dass ich mein Abi wiederholen muss«, und dann erzähle ich Simon von meinem Traum, als wäre das der Grund für meine trübe Stimmung, und ich verkürze die geträumte Abgabefrist auf acht Stunden, damit er gar nicht erst auf die Idee kommt, einen Countdown hineinzuinterpretieren. Es ist legitim, seine eigenen Träume nachzubearbeiten. Simon sagt, die Sorte Traum kenne er gut, dieses Aberkennen von Qualifikationen, er habe mal im Traum sein Zertifikat für das fachgerechte Tranchieren von Geflügel nicht vorlegen können und sollte nachgeprüft werden, und das hätte ihm schwer zu denken gegeben, weil er damals schon etliche Jahre Vegetarier gewesen sei.
»Und, willst du deine Klausuren noch nachliefern?«, fragt Simon und schiebt seine Hand unter mein T-Shirt. »Ich helf dir auch bei Mathe.«
»War das früher deine Aufreißernummer? Mädchen Nachhilfe in Mathe geben?«
»Es war andersherum. Ich hatte was mit meiner Mathelehrerin.«
Wir lachen beide und küssen uns und sind froh, dass sich die Schwere verzogen hat. Simon zieht seine Hand wieder unter
Weitere Kostenlose Bücher