Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
nicht genug um euch gekümmert hat?«
Das ist die Kurve vor der Zielgeraden. Ich blase den Rauch aus und frage mich wie immer, warum ich dieses Gefühl nach dem ersten Zug wohl so liebe.
»Als ich jünger war, ja. Es war so offensichtlich, dass wir ihr nicht wichtig waren. Klaus war wichtig und ihre Arbeit. Sie hat nie versucht, das zu verbergen. Es war halt so. Ihre Zuneigung konnte sie nur dadurch ausdrücken, indem sie Hippiekinderkleider für uns entwarf und nähte. Meine Eifersucht lief völlig ins Leere. Ich konnte ihr noch nicht mal ein schlechtes Gewissen machen, als ich anfing, Schule zu schwänzen und zu klauen und zu kiffen. Sie war durchaus besorgt, aber nicht betroffen. Das hatte alles nichts mit ihr zu tun. Und irgendwann war es dann auch für mich halt so.«
»Gleichmut? Lass mich bitte mal ziehen.«
Ich reiche Simon die Zigarette rüber und nehme einen Schluck aus der Flasche, nur einen kleinen, weil ich finde, dass ich langsam genug habe.
»Nein, kein Gleichmut. Ich war von zu Hause ausgezogen, das war die Lösung. Ab und zu habe ich mich mit meinem Vater getroffen, aber er kam mir immer vor, als würde er nur darauf warten, dass endlich sein Handy klingelt und er zu Alicja zurückmusste. Das war Anfang der Neunziger, und mein Vater war natürlich einer der Ersten, die ein Mobiltelefon hatten, so ein Riesenteil von Motorola.«
Simon gibt mir die Zigarette zurück, der Filter ist ganz heiß geraucht.
»Was ist aus deinen Eltern und ihrer Modefirma geworden? Und wie ist dein Verhältnis heute zu ihnen?«
Jetzt die Zielgerade. Ich werde sie vorsichtig nehmen und nicht freihändig fahren. Ich trete die Zigarette auf dem Boden aus und sage: »Der Umsatz begann erst gegen 1995 etwas zurückzugehen. Aber das war kein Problem, mein Vater war ein guter Geschäftsmann, der hatte seine Kohle auch in andere erfolgreiche Projekte gesteckt. Er verkaufte die Firma 2001, und soweit ich weiß, produzierte sein Nachfolger nie mehr unter dem alten Markennamen.« Einen kleinen Schluck noch, einen winzigen. »Zum letzten Mal gesehen habe ich meine Eltern vor zehn Jahren. Man darf davon ausgehen, dass sie tot sind.«
Ich weiß genau, wie Simon sich jetzt fühlt: überfordert. Ich werde es kurz machen.
»2001 war auch das Jahr, in dem mein Vater seine Krebsdiagnose bekam. Bauchspeicheldrüse. Vielleicht noch ein halbes Jahr. Keiner erfuhr etwas davon, außer Alicja natürlich. In den Jahren davor hatte er Marek und mir schon einen Haufen Zeug überschrieben, Marek kümmerte sich um so was, mich interessierte das nicht. Geschäftlich gab es also nicht mehr viel zu regeln. Sie flogen nach Melbourne und mieteten sich dort ein Segelboot, und ab ging’s in die tasmanische See. Wir lassen von uns hören, Kinder. Das Boot haben sie nach Wochen wiedergefunden. Meine Eltern nicht.«
Simon sagt nichts, weder Oh Mann noch Der-Die-Du Ärmste, und das rechne ich ihm hoch an. Mir selbst rechne ich hoch an, dass ich keine Lust mehr auf Wein habe und mich so friedlich und fast heiter fühle. Wir stehen auf und gehen zurück in unser Zimmer, ganz ohne Worte. Ich zünde eins von den Teelichtern an und stelle es auf meinen Nachttisch. Wir putzen uns die Zähne in stiller Eintracht. Wir ziehen uns aus und legen uns ins Bett. Unsere Hautflächen tauschen träge Lustsignale aus, willst du auch, oh ja, ich will, aber ich bin so schwer und müde, du auch? Unsere Gedanken taumeln durch die Dunkelheit. Mein Kopf liegt auf Simons Schulter. Die Flamme des Teelichts flackert und wirft Fieberschatten an die Zimmerdecke.
»Kannst du immer gleich einschlafen?«
»Nein, nie«, sagt Simon.
»Wenn ich nachts im Bett liege und nicht einschlafen kann, weil meine Gespenster keine Ruhe geben, dann rufe ich ihnen ein Taxi.«
»Du machst was?«
»Ein Taxi rufen. Es nützt überhaupt nichts, wenn man versucht, nicht mehr an bestimmte Dinge oder Personen zu denken, weil man endlich schlafen will. Dann wird alles nur noch schlimmer. Also lasse ich in Gedanken ein Taxi vorfahren. Oder auch zwei, je nachdem, wer alles auf meiner Bettkante sitzt.«
»Und wohin fährt das Taxi?«
»Das ist mir völlig egal, das müssen sie selber aushandeln, wenn sie drin sitzen. Das Entscheidende ist, dass ich sie ins Taxi reinkriege. Ich muss es vor mir sehen, wie sie einsteigen. Manchmal schiebe ich ein bisschen nach, aber ich darf keine Gewalt anwenden, das mögen sie nicht, dann steigen sie sofort wieder auf der anderen Seite aus. Am besten ist es, wenn ich sie
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