Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
meinem T-Shirt hervor und greift zum Telefonhörer, um das Ritual von gestern zu wiederholen und Kaffee zu bestellen, während ich ins Bad gehe und tief durchatme und mir für den Rest des Tages absolute Aufrichtigkeit verordne. Ich besiegle meine guten Absichten durch vorsichtiges Pinkeln bei angelehnter Badezimmertür. Dann gehe ich Aspirin suchen.
Als ich ins Zimmer zurückkomme, sagt Simon, er habe in einem Anfall von Dekadenz gleich ein komplettes Frühstück aufs Zimmer geordert, und überhaupt findet er, wir sollten diesen Raum heute nicht mehr verlassen. Ich bin ganz seiner Meinung, erst recht, nachdem ich einen Blick aus dem Fenster geworfen habe. Es stürmt und schüttet wie in einem Werbefilm für Grippemedikamente. Ich öffne die Balkontür und hole den Badezimmerhocker rein, den wir gestern Nacht dort vergessen haben. An seiner Sitzfläche klebt ein nasses Laubblatt.
Das Frühstück wird uns auf einem Servierwagen hochgebracht, zusammen mit meiner Kapuzenjacke, die säuberlich zusammenfaltet auf der untersten Ablage liegt. Ein kleiner Gruß aus dem Restaurant. Simon braucht nur wenige Minuten, um unser Bett in ein Picknickareal zu verwandeln. Ich ziehe mich mit meiner Kaffeetasse ans andere Ende zurück und sehe ihm beim Herumkrümeln zu. Frühstücken gehört nicht zu meinen Leidenschaften, Frühstücken im Bett schon gar nicht.
»Hast du wirklich mal was mit deiner Mathelehrerin gehabt?«
»Hm«, sagt Simon und verteilt Marmelade auf seinem Croissant. »Sie hatte ihre erste Stelle an unserer Schule. Es ging nur ein paar Wochen. Aber es war das Größte, was mir je passiert war. Dann hat sie es beendet, zack. Ich bin wochenlang wie ein geprügelter Hund rumgelaufen. Aber mir war klar, dass es so kommen musste. Ich war immerhin schon achtzehn und kein suizidgefährteter Teenager mehr. Sie hätte so einen unglaublichen Ärger kriegen können. Das war’s nicht wert.«
»Irene würde jetzt sagen: Das ist wirklich sehr großmütig von Ihnen, Simon. Und jetzt reden wir mal von Ihren verzweifelten, zornigen Nächten damals.«
Simon sieht mich einen Moment verblüfft an. Dann nickt er und sagt: »Oho. Kluge Frau«, und lässt offen, ob er meine Therapeutin damit meint oder mich. »Bist du schon lange bei ihr?«
»Über zwei Jahre. Das ist die längste Beziehung, die ich je hatte.«
Ich gieße mir neuen Kaffee nach und kleckere dabei so viel aufs Laken, dass ich meinen Anspruch auf moralische Überlegenheit verliere. Ich frage: »Hast du Lust, mir was von Lukas zu erzählen?«
Frauen Ende dreißig mit ungeklärtem Kinderwunsch von den eigenen Nachkommen vorzuschwärmen kann heikel werden, lese ich in Simons Gesicht, aber bevor ich etwas Beruhigendes hinterherschieben kann, antwortet er mir.
»Ich weiß nicht genau, wie man sein eigenes Kind beschreiben kann. Lukas ist ein freundliches Wesen. Zärtlich und wild. Er spielt Fußball im Verein. Ich gehe zu seinen Spielen mit, so oft ich kann. Seinetwegen weiß ich, welche Mannschaften in der Bundesliga spielen, ich kenne alle Trainer und den aktuellen Tabellenstand, und du ahnst nicht, wie sehr mich Fußball früher gelangweilt hat. Wir spielen Schach, wir bauen zusammen den Castor-Transport nach und ketten Playmobil-Figuren an die Gleise, aber bei uns gewinnen natürlich die Guten, und wenn Lukas auf die Schnauze fällt, rennt er immer zu seiner Mutter und nicht zu mir. Ich hätte gern mehr Zeit mit ihm. Nein, vergiss den letzten Satz, das ist unwürdiges Rechtfertigungsgeschwätz. «
»Wo ist er jetzt? Warum ruft er dich nie an?«
»Er ist mit Connie bei meinen Schwiegereltern im Tessin. Er hat Herbstferien. Es kommt öfter vor, dass ich eine ganze Woche nicht erreichbar bin, das kennt er schon. Außerdem habe ich mit Connie ausgemacht, dass ich die drei Anschlusstage an das Wochenende ganz für mich haben kann. Sie würden mich nur anrufen, wenn es etwas ganz Dringendes gäbe.«
Ich merke, wie sich die Frage in mir aufbläht wie ein Ballon. Bei jeder außerehelichen Affäre taucht diese Frage irgendwann mal auf, ich hätte lieber noch gewartet und sie eine halbe Stunde vor unserem Abschied gestellt, mit genügend Zeit zum Antworten, aber zu wenig für schlechte Laune. Die Frage platzt leider vorzeitig.
»Wirst du Connie von uns erzählen?« Meine Güte, seine Frau denkt, er sitzt hier und meditiert oder macht lange, einsame Spaziergänge, und dabei hat er Sex mit einer anderen, die Frage ist völlig in Ordnung.
»Ich weiß es nicht. Ich denke auch
Weitere Kostenlose Bücher