Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
an.
Simon liegt beinahe quer über dem Bett, bis zur Nase eingehüllt in seine Decke. Ich setze mich behutsam ans Fußende, damit die Matratze unter meinem Gewicht nicht zu schnell nachgibt und ihn weckt. Ich sehe Simon beim Schlafen zu. Ich versuche, seine nahezu lautlosen Atemzüge mit meinen zu synchronisieren, indem ich das leichte Heben und Senken der Decke beobachte. Mein Herz wird ruhig. Es ist kalt im Zimmer. Ich ziehe meine eigene Bettdecke zu mir heran, die mit Simons verwickelt ist, und meine Bemühungen, ihn dabei nicht wach zu rütteln, erinnern mich ans Mikadospielen. Ich war gut im Mikado. Ich bin es immer noch.
Schlaf, Simon. Ich pass auf dich auf.
Ich muss an ein Gespräch mit Irene denken, bei dem es um meine Kindheit ging und um eine meiner größten Sehnsüchte: dass jemand mich behütet. Wenn ich ein Kind bekommen würde, habe ich damals gesagt, dann würde ich es in einen Topf einpflanzen und neben mich stellen und ihm beim Wachsen zusehen. Wir haben das Thema nicht weiter vertieft. Ich glaube, Irene konnte sich gerade noch verkneifen, mir zu sagen, wie froh sie sei, dass ich kein Kind hätte. Aber vielleicht hat sie auch etwas ganz anderes gedacht.
Simon seufzt und murmelt etwas und dreht sich auf die Seite. Sein Arm schiebt sich unter der Decke hervor, seine Hand streift das Laken. Sucht er mich? Ich wünsche es mir. Ich wünsche mir, dass er von jetzt an jede Nacht nach mir sucht. Was für ein erbärmlicher Wunsch. Ich sollte ihm wünschen, dass er glücklich wird mit seiner Familie, das wäre nobel und großherzig. Ich versuche es. Es fühlt sich verlogen an. Ich ringe mit meiner Wahrhaftigkeit, und am Ende kommt ein Wunsch heraus, den ich wirklich ehrlich meine: Ich wünsche ihm, dass er immer Entscheidungen trifft, die ihn glücklich machen. Mehr Selbstlosigkeit geht im Moment nicht. Es ist ein Wunsch, in dem ich immer noch als Möglichkeit vorkomme.
Die erste Kerze erlischt um kurz vor vier. Im Schein des verbliebenen Lichts kann ich von Simon nur noch die Konturen erkennen. Er liegt auf dem Rücken, entspannt wie ein Kind. Ich glaube, er träumt. Träum von mir, Simon. Ich möchte so gern eine Rolle in deinen Träumen spielen. Ah, dieses Anhaften. Buddha hatte recht, es ist die Ursache für alles Elend dieser Welt.
Als das zweite Licht ausgeht, habe ich in meiner Phantasie alle Fäden gekappt, die mich mit Simon verbinden. Meinem geistigen Schwert fallen nacheinander zum Opfer: die Freude. Die Nähe. Der Geruch. Die Vertrautheit. Die Leidenschaft. Das Verstehen. Die Neugier. Der Sex (drei Fehlversuche). Die Liebe. Nein, nicht die Liebe.
Um halb fünf höre ich den Gong. Ich höre ihn so klar und deutlich, wie ich ihn am vergangenen Wochenende nie gehört habe. Er beginnt in meinem Kopf und breitet sich in Wellen im ganzen Körper aus. Sein Klang ist warm und tief und unmissverständlich. Steh auf, Mila, sagt der Gong. Zeit zum Alleinsein. Kein Frühstück mehr und keine Abschiedsrede und keine Tränen. Es ist gut jetzt. Steh auf.
Und ich stehe auf. Ich schleiche ins Bad und pinkle mühelos einen neuen Stillerekord, putze mir in der Finsternis die Zähne, sammle meine Sachen ein und stopfe sie in meinen Koffer. Ich ziehe an, was mir als Erstes unter die Finger kommt, es ist egal, heute wird mich niemand länger ansehen. Meine Jacke. Meine Handtasche. Telefon, Autoschlüssel, alles im Griff.
Ich gehe durch die Dunkelheit und setze mich aufs Bett. Ich beuge mich über Simon. Ich küsse ihn. Er ist sofort da, hellwach. Der Kuss kommt von der falschen Seite. Er greift nach mir. Meine Schultern sind nicht nackt. Er weiß Bescheid.
»Mach’s gut, Simon«, sage ich. In meinem Brustkorb fängt etwas an zu wüten und zu brüllen wie ein Tier, das außer Kontrolle gerät. Ich löse mich aus seiner Umarmung. Simon sagt: »Mila.« Mehr sagt er nicht. Ich stehe auf. Ich gehe zur Tür. Auf dem Boden liegt etwas. Ich bücke mich und nehme das Meditationskissen mit.
Teil 3
9. November – 18. November
1.
Der Lenkdrachen ist neongrün und kurvt ein paar makellose Achten über den Baumwipfeln, bis ihn eine Windbö erfasst und zur Seite reißt. Er gerät ins Trudeln und fängt sich wieder, dreht sich einmal um die eigene Achse und schießt dann wie eine Rakete senkrecht nach oben, so schnell, dass ich meine, sein Pfeifen im Gebrüll des Winds ausmachen zu können. Ich laufe weiter. Die erste Plastiktüte, die knatternd meinen Weg kreuzt, kann ich noch elegant überspringen, die nächste
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