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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Reverend Billy Milk, Großpastor, Neu Jerusalem-Kirche von der Offenbarung des heiligen Johannes.
    »Wer ist da?« fragte Julie.
    Klicken. Gedämpft metallisch.
    »Wer ist da?«
    Dann: dumpf gutturaler Knall; Popcorn, das in einem Spucknapf gebacken wird.
    Das erste Geschoß traf nur den bauschigen Ellbogen von Julies Vogelscheuchenhemd, riß ein 5 Cent großes Loch in den Stoff. Das zweite Geschoß streifte ihre Wange und nahm ein Büschel Haare mit.
    Sie heulte auf. Sprang. Taumelte zurück, dann in die Waschküche. Die Backe fühlte sich an wie ein zweiter Mund, schnatternd, fluchend, Blut spuckend. Sie zitterte. Überfall, Raub, Wyverns bösartige Pranke, die nach ihrer Seele griff.
    Kinderbett, Mobile, Waschmaschine, Trockengestell, das zerbrochene bauchige Glas – Kindheitserinnerungen, alles durcheinandergeworfen. Sie stieg aufs Kinderbett, das Fenster war in Reichweite, kletterte aufs Fensterbrett, zwängte sich durch, ließ sich in einen Haufen Seegras fallen. Schüsse. Großer Gott – Schüsse! Sie preßte die Hand auf die Wunde an der Backe und rannte über die Eisenbrücke in Richtung Ocean Drive West, der benommene Verstand sehnte sich nach der Zeit, da sie ihre Feinde im Handumdrehen hätte in die Bay fegen, die Geschosse wie Glühwürmchen hätte mit der Hand auffangen können.
    Sie torkelte auf der Sea Spray Road entlang, blieb dann stehen und schaute zurück. Orpheus’ verhängnisvoller Blick. Aber da war niemand – keine gepanzerten Soldaten oder verrückte Apokalyptiker, keine Freischärler vom Schlag Nick Shiners. Die Straßen still. Nur das Toben der Brandung. Sie ging weiter, tröstete sich mit Phoebes Lieblingssong.
    »On the Boardwalk in Atlantic City, we will walk in a dream. On the Boardwalk in Atlantic City, life will be peaches and cream…«
    An der Sandy Drive-Kreuzung traf sie auf einen aufrecht stehenden Sarkophag. Funkelnder Glaszylinder mit der Aufschrift NEW JERUSALEM TELEPHON SYSTEM. Als Julie näher kam, klappte die Röhre wie ein Frühstücksei auf. Angewiderte, weibliche Stimme:
    »Bitte, treten Sie ein.«
    Sie ging hinein. Die Öffnung schloß sich.
    »Jesu Wiederkunft – geben Sie Ihre Telefonkartennummer an.«
    »Ich will meine Freunde sprechen! Und ich will nicht, daß auf mich geschossen wird! Ich will Phoebe und Bix und Tante Georgina sprechen!«
    »Bitte, geben Sie Ihre Telefonkartennummer an«, beharrte der Automat.
    Die Zukunft. 2012. Keine Drähte, keine Sprechmuschel, keine Hörmuschel. Einfach sprechen. »Ich hab keine Telefonkartennummer.«
    »Ist das ein R-Gespräch?«
    »Ja! R-Gespräch! Ich möchte Phoebe Sparks.«
    »Im Gebiet New Jerusalem?«
    Julie hielt im Nebel Ausschau nach bewaffneten Zeloten. »Versuchen Sie es.«
    Die Stimme hatte keine Phoebe Sparks in der Datenbank. Auch keine Georgina Sparks. Keinen Bix Constantine. Julie verlangte nun ihren eigenen Namen. Nichts. Niedergeschlagen fragte sie nach Melanie, und, o Wunder!, es gab eine Melanie Markson in Longport. Kurze Pause, dann: Melanies distinguierte Stimme versicherte, ein R-Gespräch von Julie Katz nehme sie natürlich an.
    »Hey, bist das wirklich du? Du?« Melanies sonst so gesetzte Stimme klang freudig erregt. »Ich kann’s gar nicht glauben! Sheila, du bist zurück!«
    »Ich bin Julie – vergiß das Sheila-Zeug. Was, zum Teufel, geht hier vor? Ich war eben auf Angel’s Eye, und sie haben versucht, mich zu erschießen!«
    »Sie dachten wohl, du bist eine Ketzerin.«
    »Was? Ich?«
    »Der Ort ist heiliger Boden für deine Jünger, die Ketzerjäger benutzen ihn als Falle.«
    »Meine was? Jünger?«
    »Ich bin auch eine, Sheila. Auf mich kannst du zählen. Bin nur auf dem Papier eine Apokalyptikerin.«
    »Die Bastarde haben mir das Haus gestohlen!« Julie stampfte mit dem nackten Fuß auf den Boden der Telefonzelle. Die Wunde an der Wange pochte. Jünger? Heiliger Boden? »Ich muß Phoebe finden«, sagte sie und starrte in die Dunkelheit. Draußen hing der Nebel wie grauer Star in der Nachtluft. »Phoebe braucht mich.«
    »Fürchte, ich hab den Kontakt schon vor Jahren verloren.«
    »Melanie, kann ich heute nacht bei dir bleiben? Ich bin ein bißchen durcheinander.«
    »Bei mir bleiben? Es ist eine Ehre für mich! Hast du schon gegessen? Ich brat dir ein Steak. Wo bist du?«
    »Brigantine.«
    »Ich hol dich ab. In einer knappen Stunde ist Ausgangssperre. O Sheila, es gibt so viel, was du für uns tun kannst, so unglaublich viel!«
     
    Melanie sah gut aus wie früher; geschicktes Make-up

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