Die eingeborene Tochter
war genauso wie: Sie haben Krebs. Und doch, und doch… Sie mußte hingehen. Sie würde diesen Unbestimmtheitlern sagen: Alles nur ein Mißverständnis. Ich wurde reingelegt. Hört mit diesem Ketzerquatsch auf, und laßt euch taufen.
»Deine Kirche braucht dich.« Melanie lächelte zähneknirschend. »Niemand weiß, wer als nächster geschnappt wird.«
»Ich werde mitkommen, Melanie, gern sogar, aber ich kann diese Ketzerjäger nicht aufhalten. Ich habe meine göttliche Macht aufgegeben.«
»Wir leben in ständiger Angst, Sheila. Wir… Du hast was?«
»Ich bin keine Göttin mehr.«
Das Lächeln verschwand, das Zähneknirschen blieb. »Ich versteh nicht.«
»Es ist wahr, Melanie. Keine Kräfte mehr.« Gut oder schlecht? »Nur so konnte ich heimkehren.«
»Verstehe«, sagte Melanie kühl. »Schön. Aber wenn du erst begreifst, was hier los ist, wie wir alle in der Falle sitzen…«
»Mein früheres Leben liegt hinter mir.«
»Deine Kräfte kommen schon wieder. Ich weiß das. Versuch’s, Sheila. Du mußt es versuchen!«
Der Verkehr in Margate und Ventnor war schwerfällig und teuer, Welle um Welle strebte der Apokalyptiker-Klerus in importierten Cadillacs, Mercedes und Lincolns der Arbeit zu. Melanie fuhr Julie langsam an den juwelenbesetzten Wällen des neuen Jerusalem, an perlengeschmückten Toren vorbei, wo zehn Jahre früher das ›Golden Nugget‹ und das ›Tropicana‹ gestanden waren; weiter ging’s an einer schimmernden Einschienenbahn entlang. Der Zug glitt lautlos über die Rampen, klammerte sich an die Schiene wie ein Caterpillar an einen dünnen Ast. Sie fuhren nach Westen. Über der Salzmarsch zeichnete sich ein dreißigstöckiges Gebäude mit der Aufschrift ROOMS AT THE INN ab. An der Auffahrt zum New Jerusalem Highway schlenderten Kirchgänger um eine gigantische Kathedrale; wie ein Raumschiff. Entworfen, um irgendwelche Renaissancefürsten nach Alpha Centauri zu bringen. Eine Meile die Autobahn runter leuchtete ein öffentlicher Park in der Morgensonne; GETHSEMANE PARK wartete zwischen zwei weitläufigen Raffinerien auf die Sonntagsspaziergänger.
An der Pomona-Ausfahrt begannen die Knochen.
Überall: Knochen. »Gott!« keuchte Julie. Knochen! »Gütiger Jesus!«
Meilenlange Kolonnen, eine Armee grausiger Gerippe. Sie baumelten von Starkstrommasten, Telefonmasten, Laternenpfählen, Viehzäunen und Reklametafeln, säumten wie entlaubte Bäume beide Seiten der Autobahn – ein Skelett, ein Totenschädel nach dem andern, jeder Knochen rußgeschwärzt, als ob die Welt sich in ihr eigenes Negativ verwandelt hätte.
»Du kennst das nicht?« fragte Melanie.
»N… Nein… kenn ich nicht. Großer Gott!«
Auf den Schädeln und Schulterblättern hockten Krähen und hackten das Mark heraus. An jedem knöchernen Hals baumelte eine Holztafel wie ein Preisschild.
»Öffentliche Hinrichtungen«, seufzte Melanie. »Sehr populär…«
»Du meinst, sie werden lebendig verbrannt?«
»Lebendig verbrannt. Im Zirkus.« Melanies Stimme schwankte zwischen Bitterkeit und Resignation. »Löschen immer das Feuer, bevor es die Knochen erreicht, sonst gibt’s am Schluß nur einen Haufen Asche und keine Botschaft.«
»Botschaft?«
»Sei kein Ketzer! Sündige nicht!«
Julies Herz war nur noch ein wild in der Brust tobender Muskel. »Wissen das die Amerikaner? Die Regierung? Die Vereinten Nationen? Irgendwer muß doch eingreifen!!«
Melanie nickte. »Sie wissen es, Sheila. Aber sie wollen nicht intervenieren, wo doch Trenton so ein Bollwerk gegen den Sozialismus ist.«
Die Skelette glitten vorbei wie wiederauferstandene Tote, die dem Tag des Jüngsten Gerichts zueilen. »Sind sie alle meine…« – das Wort blieb Julie fast im Hals stecken – »meine Jünger?«
»Ein Drittel ungefähr. Der Rest Mörder, Homosexuelle, Zotz-Dealer, Juden, Katholiken und so weiter. Unbestimmtheitler gehen allerdings freiwillig zum Brandpfahl.«
»Freiwillig?«
»Einige von uns. Nicht viele. Aber sprich zu uns, und wir werden gehen.«
»Ich werde nicht zu euch sprechen.«
»Wir hören auf dich, Sheila. Ich nicht, fürchte ich, aber einige von uns.«
Als Melanie die Geschwindigkeit verringerte, wurde der Skelettmarathon zu einer eher würdevollen Prozession, und Julie konnte die Holzschilder lesen. Namen. Donald Torr, Mary Benedict, James Ryan, Linda Rabonovich, tausend Namen, zweitausend. Unter jedem Namen nur ein Wort. Urteilsbegründung. Ketzerei, Ketzerei, Ehebruch, Blasphemie – die Schuldsprüche wurden zum
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