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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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ließ die letzten fünfzehn Jahre völlig vergessen. Ihr rundes Gesicht wirkte lebhaft und jugendlich. »Da steh ich jetzt«, schwärmte sie und strich nervös durch das gebleichte blondgefärbte Haar, »und spreche in meinem eigenen Wohnzimmer mit Sheila!« Julie konnte sich an Zeiten erinnern, da Melanie die Kosmetikindustrie als Fußtritt ins Antlitz jeder Frau bezeichnet hatte. »Unglaublich«, sagte Melanie, »einfach unglaublich!«
    In Julies Magen rumorte ein Porterhousesteak. Sie lächelte müde und streckte sich auf der geräumigen samtbezogenen Couch aus. Schon Melanies BMW verriet Klasse, aber diese Eigentumswohnung in Longport war wirklich eindrucksvoll, überspannter Zwölf-Zimmer-Traum, der Julie an ihre Villa in der Unterwelt erinnerte. »Siehst so aus, als ob dich die Disney-Leute ganz gut bezahlten.«
    »Nicht die Disney-Leute.« Melanie errötete unter dem Make-up. »Die Apokalyptiker.« Sie stand von der importierten Sears and Roebuck-Ottomane auf und nahm einen Stoß rechteckiger Bände von der Bücherwand. »Sicher, das ist nicht grade das, was ich unbedingt schreiben will, aber tausend Mammons für eine Woche Arbeit, wer kann da widerstehen?«
    Julie wickelte sich fest in Melanies weißen Frottee-Bademantel. Das oberste Buch auf dem Stapel, ›Ralph und Amy werden getauft‹, zeigte auf dem Titelbild zwei Jugendliche, die bis zu den Schultern in einem klar schimmernden Fluß standen. Das nächste hieß: ›Ralph und Amy besuchen den Himmel.‹ Auf dem Cover tollten die Titelhelden durch eine hügelige Stadt mit vielen Türmen. Julie schlug Seite 1 auf.
Imagine a meadow with grasses of silk,
    imagine a river with waters of milk,
    imagine a rainbow as big as the skies,
    imagine a city where nobody dies…
    »Das hat fast jedes Kind im Land«, erklärte Melanie. »Ordentliche Tantiemen. Geb ich zu. Hey, hör mal, ich laß die Karriere sausen, wenn du willst. Sag nur ein Wort. Deine Kirche – das ist meine Kirche, Sheila – die einzige.« Voll Verachtung quetschte sie das gekreuzigte Lamm an ihrer Halskette. Angst stand in ihrem Doppelkinngesicht geschrieben. »Okay, okay, vielleicht bin ich nicht so fromm wie manche, vielleicht hab ich nicht deine Stimme gehört, vielleicht hab ich mich von diesen Apokalyptiker-Idioten taufen und überreden lassen, nicht mit Frauen zu schlafen und so, aber glaub mir, ich bin dein! In jeder Hinsicht.«
    »Kirche?« Julie zupfte am Verband an ihrer Wange. »Ich hab eine ganze Kirche?«
    »Ehrlich, ich bin durch und durch Unbestimmtheitlerin. Manchmal mach ich mich frei und fahr nach Camden, nur um Father Paradox zu hören. O ja!«
    Julie betrachtete den Schutzumschlag von ›Mein erstes Buch über die ewige Verdammnis‹: ein satanischer Hase schielte auf ein erschrecktes Häschen. »Melanie, ich bin verwirrt. Kurz bevor ich ging, hab ich die Apokalyptiker doch ins Meer getrieben. Und nun sind sie…«
    »Das hast du sicher getan, Julie, und für ein paar Monate blieben sie auch weg. Monate. Aber als sie zurückkamen, waren sie ein viel gerissenerer Haufen. Brannten nichts mehr nieder, kein einziges Gebäude. Kann natürlich sein, daß sich Milk selber zum Bürgermeister gewählt hat, dann…«
    »Bürgermeister? Milk ist der Bürgermeister? Dieser wahnsinnige Schlächter!«
    Melanie grinste einfältig, als sei sie wegen der unwahrscheinlichen Wendungen der Geschichte verlegen. »Innerhalb eines Jahres war praktisch jeder Apokalyptiker östlich des Mississippi hier. Es wurde ein totaler Apokalyptikerstaat – die Sezession war bloß noch Formsache. Eine Zeitlang wurde von einer Invasion über den Delaware geredet, aber ich glaube, nach Vietnam und Nicaragua hatte das Pentagon ziemlich die Schnauze voll von zweifelhaften kleinen Kriegen. Tatsache ist – die US-Regierung hatte sich mit der Idee einer rechtslastigen terroristischen Theokratie an der amerikanischen Ostgrenze angefreundet. Hält New York in Schach – wären am liebsten selber draufgekommen.« Melanies Gesicht nahm einen unheimlichen Ausdruck an; eine Art schüchterner Macchiavellismus, Miene eines scheuen Landpfarrers, der plötzlich die Welt regieren soll. »He, ich wollte dir was vorschlagen! Weißt du, was morgen ist? Morgen ist Sabbath – nicht der jüdische Sabbath, also Milks Sabbath –, sondern der Sabbath, und ich schlage vor, wir gehen zur Kirche. Deiner Kirche.«
    Julie legte die Hände um den Kaffeebecher. Ein wunderbarer kleiner Ofen. Ihr Herz wurde nicht warm. Sie hatte eine Kirche. Das

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