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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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lakonischen Gedicht – Ketzerei, Perversion, Diebstahl, Mord, Sozialismus, Lüsternheit, Ketzerei, Ketzerei, Sodomie, Falsches Zeugnis, Ketzerei, Ehebruch, Zotz-Dealen, Blasphemie, Ketzerei…
    An der Hammonton-Ausfahrt fuhr Melanie aufs Bankett und stellte den Motor ab. »Du solltest noch etwas sehen…«
    »Hey, das ist doch alles völlig außer Kontrolle«, protestierte Julie. »Völlig wahnsinnig, das Ganze. Wenn ich noch Göttin wär, würde ich Milk das Geschäft vermasseln. Ich muß nicht…«
    »Doch, du mußt. Entschuldige, Sheila, aber du mußt!«
    Julie ballte die verbrannte Hand, quetschte die ganze Schmach ins gummiartige Gewebe. Sie folgte Melanie zu einem Quartett von Skeletten, die an eine alte ›Trump Castle‹-Reklametafel gekettet waren. Ein untersetzter Polizist im grünen Kampfanzug kam herbei, schob sich an den Reihen der Sünder vorbei wie ein Wolf auf der Pirsch. Vor ihm flatterten die Krähen auf.
    »Er will sich nur vergewissern, daß wir keine Reliquien klauen«, murmelte Melanie. »Deine Anhänger tun das manchmal.«
    »Wird er uns festnehmen?«
    » Uns? Wir sind doch bloß zwei altmodische Mädchen auf dem Weg zum Apokalyptiker-Gottesdienst.«
    Sie entsprachen der Rolle. Dank Melanie. Sie trug ein Kleid, das an ein riesiges Schondeckchen erinnerte; Julie eine kastanienbraune Seidenbluse mit weißem, gelbgemustertem Dirndlrock; jede ein silbernes Lämmchen am Hals und beide die Art Make-up, die Melanie optimal nannte: grade soviel, daß man annehmen konnte, sie schätzten ihre Weiblichkeit, aber nicht so viel, daß einer auf die Idee kommen könnte, sie hätten auch noch Spaß dran.
    Der Corporal hielt sein Sturmgewehr auf den Boden gerichtet, bewußt freundliche Geste, begrüßte sie: »Morgen, Ladies.« Tiefe Sandpapierstimme. Er deutete auf den schwarzen Knochenwald. »Wenn Jesus zurückkommt, wird das sein wie das hier, nur ’ne Million mal größer. Armageddon. Erstaunlich, wenn man sich das vorstellt.«
    Julie warf, einen Blick auf ein Skelett in der Nähe: breites, weibliches Becken, die zernagten Knochen mit Klavierdraht zusammengebunden.
    »Wir müssen weiter, Honey.« Melanie tupfte Julie behutsam auf die Schulter. »Wir versäumen noch die Predigt.«
    In Julies Magen tat sich ein Loch auf, ein Tunnel, der direkt in die Hölle abtauchte. Der Corporal langweilte sich und ging. Als er außer Hörweite war, konnte Julie endlich weinen.
    Zwei Schuldsprüche auf Tante Georginas Tafel: Perversion: kein Wunder. Ketzerei. Warum das? O Gott, o nein, Georgina, nein, nein! Julie ließ ihre Finger über eine geschwärzte Rippe gleiten. Drunter kam der weiße Knochen vor. Hast du sie verflucht, Tante? Hast du ihnen ins Gesicht gespuckt? Ich weiß, du hast es getan.
    »Ich hab sie immer gern gehabt«, sagte Melanie. »Für Phoebe war sie eine wirklich gute Mutter.«
    »Du hättest mich warnen sollen!« krächzte Julie.
    »Tut mir leid.« Melanie schaute dem Corporal nach. »Wir brauchen dich. Das kannst du jetzt verstehen, oder?«
    »Das ist nicht fair, Melanie!«
    »Ich weiß. Aber wir brauchen dich.«
    »Das ist verdammt noch mal nicht fair!«
    Sie versuchte, ihre Tante aus den Knochen zu rekonstruieren, die lebhaften Hände, das schmale, lachende Gesicht, den schnellen Spinnengang.
    Aber ein Skelett ist nur ein Haus, kein Heim; welche Beziehung auch zwischen diesem Knochengerüst und der Summe all des Vergangenen bestehen mochte, das Georgina gewesen war – sie spielte keine Rolle mehr.
    »Phoebe weiß davon?«
    Melanie zuckte die Achseln. »Im Zirkus hab ich sie damals nicht gesehen. Sie hat Jersey vielleicht schon Jahre vorher verlassen.«
    Julie fuhr mit der Hand über die Holztafel. »Ketzerei, steht hier.«
    »Sie versuchten lange, sie zu bekehren, und sie blieb immer dabei, sie habe schon eine Religion – sie verehre den Geist des absoluten Seins, sagte sie. Eines Tages brachten sie sie zum heiligen Fluß und versuchten sie zu taufen. Weißt du, was sie getan hat?«
    »Was?«
    »Reingepißt hat sie! Sie ist aufrecht gestorben, Sheila. Nicht einmal im Angesicht der Flammen hat sie um Gnade gebettelt.«
    Der feste Glaube, der Atlantic City zu New Jerusalem aufgewertet hatte, war noch nicht bis Camden vorgedrungen. Es bot immer noch den verwüsteten, ausgebombten Anblick, an den sich Julie erinnerte. Damals hatte sie auf dem Weg zum College immer den Südbezirk durchquert. An der Walt Whitman Bridge schauten sie nach Amerika hinüber. Ziegelmauern, Wachtürme, Stacheldrahtverhaue

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