Die eingeborene Tochter
des Jungen.
»Ich heiße Julie Katz.«
»Ach, die berühmte Julie Katz«, sagte der Wasserspender kryptisch und fixierte sie mit dunkel leuchtenden Augen. Kräftige, semitische Nase, hohe, intelligente Stirn – ein gut aussehender Bursche, wirklich, nur etwas entstellt durch die Löcher in den Hand- und Fußgelenken. »In letzter Zeit haben wir nur über deine Ankunft reden hören.« Das Schlürfen des Jungen hallte von den Granitwänden wider.
»Ich dachte, du bist in Buenos Aires«, sagte Julie.
»Wer hat dir das erzählt?« wollte Gottes Sohn wissen. Er nahm dem Jungen das 10-Uhr-59-Schild ab und warf es in die tintenschwarze Finsternis.
»Satan.«
»Er lügt.« Jesus half dem Jungen vom Tisch und führte ihn zum Höhleneingang. »Nicht immer, aber oft.« Die Ledersandalen ihres Bruders waren abgetragen und brüchig. Am Linken fehlten die Riemen. Brandlöcher im Gewand. »Ich bin tot. Wie könnte ich da in… wie heißt das noch?«
»Buenos Aires.«
»Nein. Tot. Ans Kreuz genagelt.« Jesus steckte den Zeigefinger durch das Loch im Handgelenk. »Und dich haben sie auch umgebracht?«
»Ich bin nicht tot.« Warum glaubte bloß jeder, sie sei tot?
»Was machst du dann hier?«
Die bissige Bemerkung war unberechtigt, fand sie. »Ich war in Jersey nicht glücklich. Ich konnte nicht verstehen, was für eine Rolle ich spielen sollte.«
»Und du dachtest, in der Hölle wär’s netter?« Jesus beugte sich zum Bach hinunter und füllte die Kelle. »Und das nennst du Voraussicht, Mädchen? Der Nächste!« Was für ein Schauspieler! Und auf den Sexismus konnte sie auch verzichten. »Ich hatte keine Wahl. Jeder war hinter mir her. Und ich bin kein Mädchen!«
Ein hagerer, runzliger Alter zog sich auf den Tisch.
»Wo ist überhaupt dieses Buenos Aires?« fragte Jesus.
»In Argentinien.«
»In Asia Minor?«
»Südamerika.«
»Ich bin sehr beschäftigt«, sagte er barsch und versorgte den alten Mann mit Wasser. Grober Kerl, dachte sie. Unhöflicher Rabauke. »Was immer du in der Hölle auch suchst«, sagte ihr Bruder, »du wirst es in diesem erbärmlichen, kleinen Raum nicht finden.«
»Offensichtlich nicht.«
»Dann geh doch, warum gehst du nicht?«
»Weißt du, wer ich bin?«
»Ja, meine gutangezogene kleine Schwester, ich weiß, wer du bist, und ich habe dir nichts zu sagen.« Jesus seufzte – ein langgezogener, wohltönender Seufzer voll Überdruß und Ungeduld. »Und jetzt geh bitte, Tochter Gottes!«
Vielleicht hatte sie ihn an einem schlechten Tag erwischt. Vielleicht war er in Wirklichkeit ein warmherziger, zärtlicher Kerl. Sie zweifelte daran. Dieser Mann, der sich irgendwie selbst aus der Geschichte abstrahiert, seinen Charakter jeder Beurteilung entzogen hatte; dieser Mann, in dessen Namen Kathedralen gebaut und ganze Städte niedergebrannt worden waren – dieser Mann, ihr Bruder, war ein Schmock. Auf dem Heimweg durch den schwefligen Nebel fragte sie sich, welchen Stellenwert seine Tätigkeit wohl hatte. War das Ganze eine geheime Ein-Mann-Widerstandsbewegung? Nein, die Gefangenen trugen ihre Schilder in aller Öffentlichkeit. Eher war die Wohltätigkeit ihres Bruders eine Art stillschweigend geduldete Subversion. Ähnlich wie der Schwarzmarkt in Rußland.
Sie war noch nie so froh um ihre Wohnung gewesen wie heute – die Dusche, die ihre Lebensgeister wieder weckte, Anthrax’ hervorragende Kochkünste, die Filmsammlung. Jesus verteilte also Wasser. Tolles Geschäft. Es erinnerte sie an Pop, der für Schiffe, die schon gesunken waren, den Leuchtturm einschaltete. Reines Pathos.
Aber Gottes Sohn verließ sie nicht. Er spukte durch ihre Gedanken, die Kelle in der Hand, nistete sich irgendwo in ihrem Kopf ein, als sie mit der angenehmen Vorstellung einer Pepperoni-Pizza am Kamin einnickte. Sie flüchtete in das Himmelbett, wälzte sich aber schlaflos die ganze Nacht zwischen seidenen Laken und Daunenkissen.
Am nächsten Morgen hatte er gewonnen. Sie stürzte in die höhlenartige Küche, riß die hundert Schubladen heraus und kippte den Inhalt auf den Boden. Das Geklapper ließ Anthrax herbeieilen. Er machte ein bestürztes Gesicht. »Tut mir leid«, sagte sie. »Glaubst du, ich sei eine Diebin?«
Anthrax schüttelte den Kopf. »In der Hölle gibt es wenig Kriminalität.«
»Haben wir eine Kelle?«
»Eine was?«
»Eine Kelle – ich brauch nur eine Kelle«, antwortete sie finster, versetzte dem glitzernden Haufen von Küchenutensilien einen Tritt. »Haben wir jetzt eine gottverdammte
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