Die einsamen Toten
blätterte langsam darin. Ihre blassen Finger, die sich an den Umschlag schmiegten, erinnerten ihn an die Hände des Skeletts, die aus dem flachen Grab im Friedhof von St. Asaph ragten.
Cooper wandte den an der Wand sitzenden Männern den Rücken zu. Sie waren mittlerweile verstummt und wussten nicht so recht, was sie von Angie halten sollten. Normalerweise hätten sie ihm einen Rippenstoß versetzt und ihn aufgezogen,
eine Freundin zu haben. Doch selbst sie spürten, dass mit Angie etwas nicht stimmte.
»Lesen Sie viele Bücher?«, fragte sie, als er ihr das Tonicwasser und die Chips brachte.
»Ziemlich viele. Dabei kann ich mich entspannen. Vor allem seit ich allein lebe. Ich habe keine Lust, jeden Abend vor dem Fernseher zu landen und dumm in die Glotze zu starren.«
»Das hilft, das Gehirn wach zu halten, oder? Die Fantasie, meine ich.«
»Ja, ich denke schon.«
Sie legte das Buch auf den Tisch zurück. Cooper bemerkte, dass sie die Seite verblättert hatte.
»Aber es ist doch komisch, so etwas in einer Kneipe zu tun«, meinte sie. »Nicht sehr gesellig.«
»Ich mache es auch nicht immer. Nur wenn ich eine Weile meine Ruhe haben will.«
Sie lachte. »Und jetzt komme ich daher und reiße Sie aus Ihrer Entspannung. Das ist nicht sehr gerecht.«
Sie starrte ihn herausfordernd an, als erwartete sie von ihm, eine tiefere Bedeutung in ihren Worten zu suchen. Cooper seufzte. Er würde endlich einen Kurs in Kommunikation belegen müssen. Zurzeit rauschte alles rechts und links an ihm vorbei.
»Die Welt ist nicht gerecht«, erwiderte er. »Wir können nur hoffen, dass sie gelegentlich zu unseren Gunsten ungerecht ist.«
»Ist das das Beste, worauf wir hoffen können?«
»Ich fürchte, ja.«
»Das scheint kaum der Mühe wert zu sein.«
»Aber abgesehen von der Gerechtigkeit gibt es noch andere Dinge im Leben. Denken Sie nur an das, was Sie für sich erringen können.«
»Was, zum Beispiel?«
»Liebe?«
»Wie bitte?«, fragte Angie.
»Na ja, vielleicht.«
»Sie sind verrückt, wissen Sie das? Liebe!«
»Das war doch nur ein Vorschlag. Denken Sie darüber nach.«
»Das glaube ich Ihnen nicht, Ben Cooper. Meinen Sie das im Ernst? Ich habe noch nie jemanden kennen gelernt, der so naiv ist.«
»Es ist schon komisch, wissen Sie«, entgegnete Cooper, »aber Sie klingen genauso wie jemand, den ich kenne.«
Wieder lachte Angie. »Stimmt. Und zu welchem Entschluss sind Sie gekommen, Ben?«
Cooper dachte an Diane Fry. Monatelang hatte sie ihm das Leben schwer gemacht. Dennoch hatte sie versucht, ihm zu helfen, obwohl er sehen konnte, welche Probleme die Renshaws ihr bereiteten. Konnte er sie da noch zusätzlich mit ihrer Schwester belasten? In gewisser Weise war es gerade diese Auseinandersetzung, die sie im Gleichgewicht hielt; solange sie Hoffnung hatte, kam sie damit zurecht. Und jetzt wollte Angie, dass er sie dieser Hoffnung beraubte.
»Ich kann es nicht tun«, sagte er schließlich.
»Sie können nicht? Natürlich können Sie.«
»Ich kann nicht«, wiederholte er. »Ich kann Diane nicht die letzte Hoffnung nehmen.«
»Wie ich hörte, sind Sie ihr Freund.«
»Ja, das sagten Sie bereits.«
Angie schien von ihm enttäuscht zu sein. Wenn dem so war, konnte sie sich dem Reigen unzähliger Vorgänger anschließen.
»Also, was für eine Sorte Freund sind Sie eigentlich? Sie wissen doch, dass es das Beste für sie wäre, mich vollkommen zu vergessen.«
Cooper spürte, wie er schwach wurde. »Außerdem würde Diane nicht auf mich hören. Nicht ohne Beweis.«
»Aber natürlich«, sagte Angie. »Ich dachte mir schon, dass Sie das sagen würden. Deswegen bin ich auch gekommen.«
Sie griff in ihre Jacke und zog einen Umschlag heraus, den sie Cooper reichte.
»Was ist das?«
»Machen Sie’s auf, dann sehen Sie es.«
Außen auf dem Umschlag stand nichts geschrieben. Cooper sah sich unbehaglich um. Ein Polizeibeamter bekam in einer Kneipe einen neutralen braunen Umschlag ausgehändigt; das machte sich nicht allzu gut. Aber die Gäste im Hanging Gate hatten bereits das Interesse an ihm und Angie verloren. Über den Bildschirm flimmerten die Höhepunkte der letzten Footballspiele.
Er klappte die Lasche des Umschlags um und zog den Inhalt heraus.
»Wie sind Sie daran gekommen?«
»Das spielt keine Rolle.«
»Doch, das tut es«, erwiderte Cooper wütend. »Woher haben Sie diese Papiere?«
»Sagen wir mal, ich habe einfach die richtigen Kontakte.«
»Kriminelle Kontakte, ganz offensichtlich.«
»Sie
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