Die einsamen Toten
Moment schoss aus einem Durchgang zwischen den Geschäften eine Ratte in den Hof.
Cooper wusste, dass die Border Rats unter ihrem »Beast«, ihrem Tier, etwas anderes verstanden, als üblicherweise der Fall war. Ein Bauer meinte eines seiner Rinder damit, aber es war auch ein Slangausdruck im Knast für Sexualstraftäter, vor allem für Pädophile. Aber wenn die Border Rats von ihrem »Tier« sprachen, dann meinten sie den Mann im Rattenkostüm.
Viele Tanzgruppen hatten ein so genanntes Beast. Das war so Tradition, wie die Rollen von Betty und Tommy bei den Mummenschanz-Truppen. Daneben gab es noch Pferdefiguren und andere Tiermasken. Aber es konnte natürlich auch, wie
hier, eine Ratte sein. Und Lucas Oxley verkörperte sie. Er war der Beast Master.
Über einem Drahtgestell, das Lucas’ Körper verbarg, spannte sich grau bemaltes Sackleinen, darauf saß ein großer Rattenkopf mit Augen, Ohren und Maul und Schnurrbarthaaren um eine spitze Schnauze. Zudem schleifte Lucas einen langen Schwanz hinter sich her. Cooper konnte nicht erkennen, woraus er gemacht oder wie die Wirkung erzielt wurde, dass er tatsächlich schuppig aussah. Auf den ersten Blick eine lächerliche Erscheinung, die aber mehr als wettgemacht wurde durch die ruckartigen, huschenden Bewegungen von Lucas Oxley, seine in spasmischer Verkrampfung erstarrten Finger und das Schaben des Schwanzes auf den Steinplatten. Entsetzt wichen die Zuschauer zurück und umklammerten ihre Kinder, als könnte die Ratte sie ihnen wegschnappen. Ein paar Erwachsene wirkten sichtlich nervös, vor allem, als die Tänzer Lucas plötzlich in die Mitte nahmen. In dem Moment setzte auch das Schreien ein.
Der Tanz selbst bestand aus kleinen Sprüngen, begleitet von Stockschlägen auf den Boden. Wie Affen, die ihrer Aggression Ausdruck verliehen. Die Tänzer umkreisten die Ratte und lie ßen ihre Stöcke gefährlich nahe an ihren Füßen zu Boden sausen. Langsam steigerte sich der Rhythmus, und der bedrohliche Gestus wurde immer deutlicher. Die Tänzer waren Jäger, die ihre Beute eingekreist hatten und zum finalen Schlag ausholten.
Die Arme gespreizt, um die Balance zu halten, gingen die Männer in die Hocke und schlugen mit den Stöcken auf den Boden, begleitet vom Klappern ihrer Stiefelabsätze und dem Rascheln ihrer mit Fransen behangenen Jacken. Sie schlugen so fest zu, dass man glaubte, die Stöcke würden jeden Moment abbrechen. Schritt für Schritt arbeiteten sie sich vorwärts, die Stöcke schwingend, ein böses Grinsen auf den schwarzen Gesichtern.
Und in der Mitte des Kreises flitzte Lucas Oxley in seinem Rattenkostüm hin und her und stieß die spitzen, schrillen Schreie aus, die Cooper ihn im Quiet Sheperd hatte üben hören. Es klang sehr realistisch, und irgendwo in der Menge fingen auch schon die ersten Hunde zu bellen an. Ein Terrier steigerte sich in fast frenetische Raserei hinein.
Die Stöcke der Border Rats hämmerten jetzt ohne Unterlass auf den Boden ein, bis die Rinde aufplatzte und helle Holzsplitter in die Runde spritzten. Die Tänzer legten sich so gewaltig ins Zeug, dass sogar die Fransen ihrer Jacken abrissen und die Blumen von ihren Hüten flogen. Als der Tanz beendet war, floss der Schweiß in Strömen über Stirn und Schläfen und hinterließ helle Streifen auf ihren geschminkten Gesichtern.
»Und was sollte das jetzt darstellen?«, fragte Peggy Check. »Wissen Sie das, Ben? Ich wette, Sie wissen es.«
»Zufälligerweise ja.«
»Ich wusste doch, dass ich den Richtigen gefragt habe.«
»Die Tradition reicht bis ins neunzehnte Jahrhundert zurück«, erklärte Cooper. »Damals wurden ein paar Meilen nördlich von hier die Eisenbahntunnel gebaut. Dort wimmelte es von Ratten, und der Tanz stellt dar, wie die Arbeiter die Ratten mit Stöcken erschlagen.«
»Hm.« Peggy klang nicht sehr überzeugt.
»Die Gruppe nennt sich Border Rats. Der Border-Tanz ist eine alte Tradition der Arbeiter. Mit ihren Stöcken und geschwärzten Gesichtern treten sie auf wie die Teilnehmer von Mummenschanz-Spielen. Und das mit der Ratte ist klar.«
»Hm. Mir scheint da noch mehr dahinter zu stecken«, meinte Peggy. »Ich habe an der Uni nebenbei Volkskunde studiert, und mir sieht das ganz nach einem klassischen Wiederauferstehungsspiel aus. Die wurden immer um diese Jahreszeit aufgeführt und repräsentieren den Tod des Winters und die Ankunft des Frühjahrs, das Wachsen der neuen Feldfrüchte.«
»Aber die Ratte -«
» Irgendeiner wird dabei immer getötet.
Weitere Kostenlose Bücher