Die einsamen Toten
wieder rückten sie ein Stück näher an die Zuschauer heran, während die Sonne in ihren verspiegelten Brillen reflektierte und Schweißperlen auf der schwarzen Schminke glänzten.
Instinktiv begann die Menge, zurückzuweichen und unruhig mit den Füßen zu scharren, als die Tänzer auf sie zukamen. Stolz schritten die Border Rats vorwärts, mit den Stöcken über den Schultern, den Kopf hoch erhoben, sicher, dass sich ihnen niemand in den Weg stellen würde. Im Gegensatz zu ihnen glichen die Zuschauer mehr und mehr einer kleinen Herde von Schafen, die sich zusammendrängten und nervös ihre Hotdogs und Fotoapparate an sich pressten. Ein kleines Kind schien einen Moment lang wie gelähmt. Seine Finger lösten sich, und ein weißer Klumpen Eis klatschte auf die Steinplatten.
Die Tänzer vollführten eine Kehrtwendung und näherten sich von der anderen Seite den Zuschauern. Dann wirbelten sie um neunzig Grad herum und wiederholten dasselbe Manöver auf der rechten und der linken Seite. Und jedes Mal wich die Menge ein weiteres Stück zurück, bis in der Mitte genügend freier Raum geschaffen war.
Die Musik verstummte kurz, um gleich darauf wieder einzusetzen, nur viel schneller diesmal. Die Tänzer hatten ihr Revier abgesteckt und konnten mit ihrer eigentlichen Darbietung beginnen.
In dem umschlossenen Hof klang das gleichzeitige Zusammenprallen der Stöcke so laut und hart, dass es fast in den Ohren schmerzte. Jetzt kamen die Border Rats so richtig in Fahrt und zeigten ihr Können mit einem Tanz namens Much Wenlock. Daraufhin kündigte Eric Oxley den nächsten Auftritt an, eine Art Kriegstanz, bei dem unter lautem Gebrüll attackiert und mit den Stöcken geschlagen wurde. Dem einen oder anderen Touristen in der Menge wurde allmählich mulmig zumute.
Die Leute waren zwischen Schaufenstern und Tänzern eingekeilt und konnten nirgendwohin ausweichen, als die Stöcke durch die Luft wirbelten und die derben Stiefel ihren Sandalen und Turnschuhen gefährlich nahe kamen.
Der darauf folgende Tanz, der Brimfield, war obszön und eindeutig. Dabei hielten die Tänzer ihre Stöcke als Phallussymbol vor den Unterleib. Anschließend warfen sie sie hoch über ihre Köpfe, fingen sie aber jedes Mal noch rechtzeitig genug auf, ehe sie in der Zuschauermenge landen konnten. Hoffentlich ist ihre Haftpflichtversicherung bezahlt, dachte Cooper, der seine neue Nachbarin, Peggy Check, in der Menge entdeckte. Er arbeitete sich zu ihr durch und sprach sie an. Sie schien ihm in einer wachsenden Wüste aus Irrationalität eine kleine Oase aus Humor und Normalität zu sein, und genau das war es, was er momentan brauchte.
»Was ist aus dem Kaffee geworden?«, fragte sie, als er sie erreicht hatte.
»Wie bitte?«
Sie lächelte. »Sie haben mich doch vorgestern Abend auf einen Kaffee eingeladen, aber als ich kam, waren Sie nicht da. Jedenfalls sind Sie nicht an die Tür gegangen. Habe ich mich in der Zeit vertan?«
»O Gott, tut mir Leid.«
»Sie haben es vergessen.«
»Also …«
»Und ich hoffte schon, man hätte Sie in einer dringenden polizeilichen Angelegenheit oder einer ähnlich aufregenden Sache weggerufen.«
»Also, so ähnlich war es auch.«
»Sie sind nicht sehr überzeugend, Ben.«
»Es tut mir wirklich Leid.«
»Und jetzt werden Sie auch noch rot.«
»Hören Sie, was halten Sie stattdessen von Montag? Da habe ich frei. Oder vielleicht könnten wir zum Essen gehen?«
»Okay, das wäre toll.«
Zu Coopers Erleichterung schien die Sache damit für sie erledigt zu sein, und sie wandte sich wieder den Tänzern zu, die eben zu singen begonnen hatten. In dem Text ging es um Dunkelheit und Licht, um Tod und Erneuerung.
Peggy hatte eine teuer aussehende Digitalkamera mit einem LCD-Display bei sich. Cooper sah ihr zu, wie sie versuchte, über die Schultern der anderen Zuschauer hinweg den Auftritt zu fotografieren.
»Wieso digital?«, wollte er wissen.
»Weil ich meiner Mutter in Chicago ein paar Bilder per E-Mail schicken will«, erklärte Peggy. »Sie ist furchtbar neugierig, wie Edendale jetzt aussieht.«
»Ich verstehe.«
»Außerdem habe ich meine eigene Website. Und wenn ich zurückkomme, werde ich einen Bericht über meine Reise ins Netz stellen.«
Ehe Cooper noch mehr sagen konnte, kündigte ein Trommelwirbel den nächsten Tanz an. Die Tänzer stellten sich jeweils zu viert in Zweierreihen auf, schulterten ihre Stöcke und konzentrierten sich. Die Trommel verstummte, und es folgte eine angespannte Pause. In dem
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