Die einsamen Toten
phobischem Verhal ten eine Angstkonditionierung zugrunde läge, der Wunsch, bestimmte Auslöser zu meiden, welche die Angst ursprünglich verursacht hatten. Aber man könne dieses Verhalten überwinden, indem man sich in einem geschützten Raum diesen Auslösern stelle. Eine Art kognitive Verhaltenstherapie mit Behandlung der Medulla. Es sei Ziel dieserTherapie, sagte ihrTherapeut, neue Erinnerungen anstelle der alten zu schaffen und damit die
Angst zu überlagern. Die alten Erinnerungen auszulöschen. Ein neues Leben als Ersatz für das alte zu schaffen.
Fry hatte sich das so vorgestellt, als würde man eine alte, gebrauchte Leinwand mit einem neuen Bild übermalen. Als Kind und als junger Teenager hatte sie gerne gezeichnet. Das konnte sie allein machen und sich in ihrem Zimmer in Warley ganz in ihre Bilder vertiefen. Manchmal hatte ihr eine fertige Bleistiftzeichnung nicht mehr gefallen, und sie hatte sie schnell wieder ausradiert. Ihre Zeichnungen hatten eigentlich nie ihren Ansprüchen genügt. Und so hatte sie die Zeichnung immer wieder neu begonnen und versucht, eine immer positivere Version auf dem Papier zu erschaffen, das bereits schmuddelig und voller Spuren der alten Zeichenkohle war.
Einmal hatte ein Freund sie an einem verregneten Nachmittag mit in die Birmingham City Art Gallery genommen, um ihr kulturelles Niveau anzuheben. Dort hatte eine Sonderausstellung stattgefunden, und bei der Gelegenheit hatte Fry eine der Höllenvisionen von Breughel dem Jüngeren gesehen. Da waren noch viele andere Bilder ausgestellt gewesen, aber es war der Breughel, der sie am meisten beeindruckt hatte. Die Erinnerung daran hatte sich länger gehalten als ihr Freund. Der hatte nur zwei Wochen überlebt. Aber die Vision der Hölle begleitete sie noch zwölf Jahre später.
Heute stellte Fry sich ihre Angst wie eine von Breughels Höllenvisionen vor, überall Dämonen und Flammen. Mit Hilfe des Therapeuten hatte sie gelernt, dieses mentale Bild mit einer pastoralen Landschaft in Pastelltönen zu überlagern: braunweiße Kühe auf einer Wiese voller Wildblumen, daneben ein Cottage, neben dessen Tür sich Klematis emporrankt, eine Katze, die auf dem Fensterbrett in der Sonne liegt. Und immer war auf diesem Bild auch ein junges Mädchen. Sie stand in der Mitte des Bildvordergrunds, trug einen geflochtenen Korb auf den nackten Armen und fütterte lächelnd die Hühner, sie sich um ihre Beine scharten, mit Getreidekörnern.
Eine Zeit lang war das Bild intakt geblieben. Den Kühen schien nie das Gras auf der Weide auszugehen, die Sonne brannte immer auf die Katze herunter. Und das Mädchen wurde nie alt, ihre Haut blieb rosig, frisch und glatt. So wie das Foto von Emma Renshaw.
Aber Frys Bild besaß nicht die Vorzüge fotografischer Permanenz. Es war mit billigen Farben gemalt. Nach ein, zwei Jahren war die Farbschicht dünn geworden. Ihr ständig prüfendes Tasten, ob das Bild noch intakt sei, hatten sie abgenutzt. Sie hatte das Bild zu oft in die Hand genommen, und der Breughel fing an, wieder hindurchzuschimmern. Zu dem Zeitpunkt hatte sie erneut therapeutische Hilfe benötigt. Sie musste verhindern, dass sich die Fratzen der gepeinigten Seelen wieder zwischen den roten Blütenblättern des Klatschmohns hervordrängten; sie musste sich vergewissern, dass die Hufe im Gras die von Rindern und nicht die bocksbeiniger Dämonen waren. Und sie brauchte Unterstützung, um nicht wieder aus dem Höllenschlund züngelnde Flammen statt der Klematisblätter zu sehen. Sie war auf Hilfe angewiesen, damit sie weiter die Unschuld des Mädchens und nicht die schuppigen Krallen der Vögel zu ihren Füßen sah.
Und jedes Mal musste sie danach die Farbe noch dicker auftragen, eine Schicht um die andere, mit immer größeren Pinseln und in immer grelleren Tönen. Schließlich schien das Bild wie zugespachtelt, so dass sie nicht länger erkennen konnte, was darunter lag. Sie sah nur noch Blut statt Klatschmohn und Moder statt Gras. Fry sah die Knochen unter der Haut des Mädchens.
6
B en Cooper und Tracy Udall hatten Reverend Derek Alton auf seinem Friedhof nicht gleich gefunden, da er zwischen dem hohen Unkraut und den ausgewachsenen Büschen kaum zu sehen war. Er trug Gummistiefel und Kordhosen und hielt eine Sense in den behandschuhten Händen. Disteln und Dornen hatten sich in seiner Hose verfangen. Ab und zu zog er halbherzig die Sense durch das Unkraut, das sich aber nur flach auf den Boden duckte, statt sich abschneiden zu lassen.
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