Die einsamen Toten
unsere Tochter ist. Alle sollen an ihr und ihrem Talent teilhaben. Wir haben in der Lokalzeitung annonciert und bei der Gemeinde und im Pub Plakate aufgehängt. Wir haben alle unsere Freunde verständigt und Einladungen verschickt. Am Montag gibt es Emmas Lieblingsgerichte, und wir werden ihre Lieblingsmusik spielen, damit sich jeder ein Bild von ihr machen kann. Und dann werden die Leute sie mit unseren Augen sehen. Es wird sicher ein bewegender Tag.«
»Ganz sicher«, antwortete Fry, die vor Verlegenheit nicht wusste, wie sie schauen sollte. Ihr Blick fiel auf eine Zeichnung, auf der hinter einem Berghang der Vollmond aufging. Im Vordergrund bewegte sich eine Gestalt in einem fließenden Gewand und mit wallendem Haar auf einem gewundenen Pfad in Richtung Gipfel. Das Bild war mit Wasserfarben in sorgfältig abgestuften Blau- und Grüntönen koloriert. Aber es sah aus, als sei es nicht fertig geworden, als hätte die Künstlerin das Interesse an dem Sujet verloren. Die Reise zu dem aufgehenden Mond war niemals vollendet worden.
Emmas Gedichte waren feinsäuberlich auf die Seiten eines Schulhefts geschrieben, ausgeschnitten und auf farbige Karten
geklebt worden. Fry las die ersten Zeilen und spürte, wie sich alles in ihr gegen den sentimentalen Kitsch sträubte. Sie brachte es nicht über sich, auch nur ein Wort weiterzulesen.
Aber Mr Renshaw hatte bereits nach einem der Gedichte gegriffen und begonnen, es mit feuchten Augen vorzulesen.
»Es wird sicher ein wunderbarer Tag«, wiederholte er.
»Sicher.«
»Werden Sie am Montag kommen?«, fragte er.
»Äh, nein. Ich glaube nicht, dass ich am Montag Dienst habe«, erwiderte Fry.
»Umso besser. Wenn Sie nicht arbeiten, können Sie ja kommen. Sie kommen doch, oder? Das Haus ist den ganzen Tag für Besucher geöffnet.«
Howard reichte ihr ein gebundenes Tagebuch in DIN-A5-Größe. Fry warf einen Blick hinein und sah, dass täglich eine ganze Seite beschrieben war. Emma hatte offensichtlich viel zu sagen gehabt.
»Vielen Dank. Sie werden es unversehrt zurückbekommen.«
Obwohl Emmas Zimmer bereits überquoll von ihren Habseligkeiten, waren überall im Haus weitere Dinge von ihr verstreut. Neben einem Sessel im Wohnzimmer standen ein Paar Schuhe von ihr. Einer von ihren Teddybären hockte auf einem dritten Stuhl am Küchentisch, wo die Renshaws normalerweise frühstückten. Und auf dem Weg vom Wohnzimmer ins Esszimmer stand ein Regal, voll mit ihren Büchern.
»Das sind alles Emmas Bücher«, erklärte Howard unnötigerweise, als sie daran vorbeikamen.
Fry begriff allmählich, wie die Renshaws funktionierten. Die beiden versuchten, sich jede Sekunde des Tages einzureden, dass Emma weiter bei ihnen lebte. Jeder Teddybär verkörperte eine Facette von Emmas Persönlichkeit, ebenso wie die Schuhe, die Bücher und die Parfümflakons auf ihrem Nachttisch. Vielleicht hatten sie Recht. Womöglich enthielten die Habseligkeiten ihrer Tochter tatsächlich schwache Spuren ihres Geistes,
ihres Wesens und ihrer Erinnerungen, eingeschlossen in ihren materiellen Erscheinungsformen wie Insekten in Bernstein. Und zweifellos beteten die Renshaws darum, dass eines Tages aus all diesen kleinen Splittern ihre Tochter wieder zusammengesetzt werden würde, so wie Wissenschaftler längst ausgestorbene Tierarten aus den DNS-Spuren in ihren Knochen zu Leben erwecken konnten. Sarah Renshaw glaubte mit jeder Faser ihres Herzens daran, wie es Fry schien.
»Mrs Renshaw, glauben Sie wirklich, dass Emma eines Tages wieder nach Hause kommen wird?«
»Selbstverständlich.«
»Und Sie, Sir?«
Howard legte seine Hand auf die Schulter seiner Frau. »Niemand hat uns bisher das Gegenteil beweisen können«, verkündete er.
Sarah nickte. »Die Leute denken, dass wir die Hoffnung aufgeben sollen. Aber wie könnten wir das tun? Damit würden wir Emma ja im Stich lassen. Wir müssen alles in unserer Macht Stehende für sie tun. Wir dürfen nichts unversucht lassen. Denn wenn wir aufhören, verpassen wir vielleicht genau die eine Chance, die uns zu ihr führt. Und den Gedanken könnte ich nicht ertragen.«
Gavin Murfin war schon seit einer Weile sehr still. Fry vergewisserte sich mit einem raschen Blick, dass er noch wach war. Zu ihrer Verwunderung sah sie, dass er sich verstohlen die Feuchtigkeit aus den Augen zu wischen versuchte. Sarah Renshaw hatte es ebenfalls bemerkt und reichte ihm wortlos eine Schachtel mit Papiertaschentüchern vom Beistelltisch.
»Mr und Mrs Renshaw«, setzte Fry erneut
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