Die Einsamkeit des Barista
die denn da gemacht? Was hat sie fotografiert?«
»Sie hat dich fotografiert, Großvater«, antwortete Massimo. »Mir hat sie gesagt, sie sei Archäologin, und eine so gut konservierte Mumie sei äußerst selten zu finden.«
Ich bitte dich, ich bitte dich, antwortete Ampelio zwischen den Zähnen.
»Hör mal lieber zu, statt hier den Besserwisser raushängen zu lassen«, sagte Aldo, der sich wieder hingesetzt hatte. »Ich sage Folgendes: Die Carrus arbeitet im Krankenhaus. Sie hat mit Sicherheit mehr Gelegenheit gehabt, von ihrer Abteilung auf die Intensivstation zu gehen, die übrigens direkt neben ihrer liegt, als Carpanesi, oder? Ergo ist es am wahrscheinlichsten, dass sie ihn ermordet hat. Was sagst du jetzt?«
»Ich kann mich nur wiederholen. Mathematisch gesprochen würde ich dir sagen, dass du fehlerhaften Gebrauch vom Konzept der konditionalen Wahrscheinlichkeit machst. Aber da wir hier in einer Bar sind, wiederhole ich: Du hast nicht den blassesten Schimmer von Wahrscheinlichkeit. Und um dich zu überzeugen, schlage ich dir eine Wette vor.«
»Lass mal hören.«
»Wie viele Plätze hat dein Restaurant?«
»Zweiundvierzig.«
»Sehr gut. Um diese Jahreszeit ist es immer voll, oder?«
Aldo zog eine Augenbraue hoch, als wollte er sagen: »Was glaubst du denn?«
»Also, wetten wir. Ich wette hundert Euro, dass heute Abend in deinem Restaurant mindestens zwei Gäste sind, die am selben Tag geboren wurden. Was hältst du davon?«
»Einen Augenblick mal, damit ich das auch richtig verstehe. Du willst mir sagen, dass unter zweiundvierzig Personen, verteilt auf dreihundertfünfundsechzig Tage, deiner Meinung nach mindestens zwei am selben Tag Geburtstag haben? Das ist die Wette?«
»Genau. Was meinst du?«
»Und wie soll ich das überprüfen?«
»Du erklärst jedem Gast die Wette und fragst sie nach ihrem Geburtsdatum. Nur den Tag und den Monat, nicht das Jahr. Mir fällt kein Grund ein, warum sie es dir nicht sagen sollten. Was sagst du dazu?«
»Dass du nicht ganz dicht bist. Die Wette gilt. Hundert Euro. Und jetzt erklär mir das mit der konditionalen Wahrscheinlichkeit.«
Massimo betrachtete einen Moment lang das Auditorium. Gar nicht so einfach. Aber natürlich unvermeidlich, denn nach dieser Provokation erwarteten die Alten eine Erklärung, das war klar. Sogar Rimediotti hatte den Kopf hinter dem »Corriere« erhoben. Massimo holte tief Luft, dann begann er: »Aldo, hast du jemals Anna Karenina gelesen?«
»Sicher.«
»Du erinnerst dich doch wohl an den Anfang?«
»Wie sollte ich nicht. ›Alle glücklichen Ehen ähneln einander. Aber jede unglückliche Ehe ist auf ihre eigene Weise unglücklich‹.« Aldo nickte lobend. »Das ist einer der schönsten Sätze, die je geschrieben wurden.«
»Ganz deiner Meinung. Und weißt du, warum er so schön ist? Weil er von universaler Gültigkeit ist. Auf seine Weise ist er eine Art Theorem.«
Massimo ging zu dem Behälter für den Eistee und schenkte sich etwas zu trinken ein.
»Was bedeutet dieser Satz? Kurz gesagt, er bedeutet, dass, damit eine Ehe funktioniert, die beiden Ehepartner in vielen Dingen einer Meinung sein müssen. Die Erziehung der Kinder, die Auffassung von Sexualität, die Bedeutung des Geldes, der Ort, an dem man lebt. Wenn über eines dieser Themen absolute Uneinigkeit herrscht oder im Kern« – Massimo öffnete die Arme – »… dann ist deine Ehe unglücklich. Es gibt Reibungspunkte, die immer wichtiger werden, während man alle anderen Dinge, die reibungslos funktionieren, kaum noch bemerkt. Dennoch funktionieren sie. Und das, was nicht funktioniert, fängt an, den ganzen Rest zu vergiften.«
Massimo nahm einen ordentlichen Schluck Tee, stellte das Glas auf den Tresen und fuhr fort: »In der Wahrscheinlichkeitsrechnung wird ebenso argumentiert. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine bestimmte Situation eintritt – zum Beispiel, dass mein Großvater es schafft, lebend ein Fußballspiel anzusehen –, wird durch das Produkt der Wahrscheinlichkeiten aller elementaren Ereignisse bestimmt, die eintreten müssen, damit diese Situation eintritt, ohne Ausnahme. Wohlgemerkt: durch das Produkt, nicht durch die Summe. Das ist wichtig.«
Massimo stürzte einen weiteren Schluck Tee hinunter, nachdem er einen Blick auf seine eigene Zweigstelle des Altersheims geworfen hatte. Immerhin schienen sie ihm bis hierhin gefolgt zu sein.
»Der Grund dafür ist einfach: Wenn die Wahrscheinlichkeit eines gegebenen Ereignisses in der obigen Kette
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