Die Einsamkeit des Chamäleons
zu fade wäre. Sie kannten es beide, das Spiel, und spielten es immer wieder mit Inbrunst. Ingrid war der Traum von einer Frau. Und auch wenn sie getrennte Schlafzimmer hatten: Ein, zwei Mal im Monat schienen Ingrids Hormone verrückt zu spielen, und sie zerrte ihn geradezu in ihr Bett. Manchmal fuhren sie auch spontan an die Ostsee, mieteten sich dort in ein erstklassiges Hotel ein, genossen die Nacht, das Frühstück, die Wellnessabteilung und einen Spaziergang an der Mole. Sie tankten ihre Ehe auf an solchen Wochenenden, die dann wieder auf einer Sparflamme aus Gleichgültigkeit, spitzen Bemerkungen und vermiedenen Berührungen vor sich hin köchelte.
»Wie findest du sie?«, fragte Ingrid mit einem leicht schnippischen Unterton, als sie später bei der abendlichen Flasche Rotwein vor dem Kamin saÃen, in dem seit Heiligabend kein Feuer mehr gebrannt hatte.
»Wen?«
Erik wollte es ihr nicht ganz so leicht machen.
Das Spiel kannte Ingrid bereits.
»Wie viele Sie s hast du denn heute kennengelernt?«
»Ach, um Rebekka â¦Â«, umständlich kramte er die Visitenkarte aus seiner Hosentasche, »⦠Schomberg geht es«, entgegnete Erik auf die ihm eigene, etwas herablassende Art, die er an den Tag legte, wenn sein Gegenüber nicht zum Punkt kam, sondern ihn mit dämlichen Fragen dahin führen wollte. Und sein Gegenüber war nun mal meistens seine Frau.
»Sie ist â¦Â«, er überlegte tatsächlich, während Ingrid ihn aufmerksam beobachtete und ihren Rotwein trank, »interessant, das durchaus, ja, aber nicht besonders gut aussehend.«
Das konnte Ingrid besonders gut leiden. Die Beurteilung einer Frau begann immer beim Aussehen. Und je attraktiver sie war, umso mehr wurde dieses herabgewürdigt, als wäre man selbst das neu entdeckte Männermodel der internationalen Modeszene. Die Beurteilung eines Mannes hingegen begann mit seinem beruflichen Status. âºEin super Typâ¹, hatte Erik damals Thorsten Milchmeyer genannt, und der sah nun wirklich gut aus. âºIst beruflich sofort in die FuÃstapfen seines Vaters getreten, hat da keine Luft rangelassen. Und der Erfolg gibt ihm recht.â¹
»Ich finde Rebekka Schomberg äuÃerst interessant«, sagte Ingrid tatsächlich ohne Neid, allein, um ihren Mann für einen Moment sprachlos zu sehen. »Aber eines macht mich stutzig.«
»Und das wäre?«, fragte Erik erwartungsgemäÃ, während er ihr und sich selbst nachschenkte.
»Wenn ihre Mutter doch eine so gute Freundin von Karl-Heinz war â¦Â«
»Ja?«
»⦠dass sich sogar die Tochter nun für den Erhalt dieser Freundschaft einsetzt, postum sozusagen â¦Â«
»Ja?«
»⦠dann wäre es doch das Normalste der Welt gewesen, dass Rebekka sich ein einziges Mal â¦Â«
»Nun sag schon!«
»⦠nach der Todesursache erkundigt.«
Erik drehte die Visitenkarte in der Hand wie einen Roulettechip. Es ärgerte ihn, dass Ingrid diesen Gedanken ausgesprochen hatte. Diesen, seinen Gedanken, dem er doch in aller Ruhe hatte nachgehen wollen.
Kapitel 18
Halb in der Nacht, noch sehr früh am Morgen, drückte Rebekka auf den Radioknopf, schaltete die Leselampe über dem Bett ein, ging in die Küche, um einen Kaffee zu kochen, und legte sich dann mit Kaffee und Laptop wieder ins Bett. Sie öffnete die Tabelle mit dem Namen OTTO und gab noch ein paar Details zur Familie ein, die ihr über Nacht eingefallen waren.
Was der Pfarrer über Anneliese Otto erzählt hatte, ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie war die Intellektuelle der Familie, die Aufstrebende wahrscheinlich, während ihr Mann abends aus seiner Müllfirma nach Hause kam und nach seiner Frau suchte, die sich irgendwo »herumtrieb«, wie er es nannte. Sie hatte den Horror miterlebt in Hohenschönhausen und durfte sich als Erstes Vorwürfe anhören ⦠Bevor ihre Fantasie noch weiter weg galoppieren konnte, stand Rebekka auf. Sie ging zur Kommode, auf der das Notizbuch ihres GroÃvaters lag. Daneben stand ein Windlicht neben einem kleinen gerahmten Spiegel, sie zündete die Kerze an, und das Ganze sah aus wie ein Altar. Hinter der Kommode stand eine Pinnwand auf dem Boden. Der Nagel dafür steckte noch in der Wand. Rebekka hängte die Korkplatte auf und legte die Karteikarten auf den Küchentisch. Auf jedes Stück Karton schrieb sie den Namen eines Toten aus der
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