Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
schüttle den Kopf, um wieder klar denken zu können. Bevor das alles angefangen hat, war mein Blick auf die Dinge vollkommen ungetrübt. Bevor Tante Harriet kam mit ihrer roten Mähne und ihren Überzeugungen. Vor dem Loch im Zaun und dem Jungen auf der anderen Seite – und vor seinem nervtötenden Vater. Ich hatte den Blick eines Wissenschaftlers. Es gab nur Schwarz und Weiß. Vernunft und Chaos. Fortschritt und Rückschritt.
Und jetzt? Schreite ich voran oder zurück? Ist es vernünftig, mitten in der Nacht hier draußen im Dschungel zu sein und die Hand eines Jungen mit bemaltem Gesicht zu halten? Ganz sicher nicht. Mein Leben wird mit jedem neuen Tag unausweichlich chaotischer.
»Hier.« Eio zieht einen dicken Lianenvorhang beiseite. Dahinter liegt das Schwimmbecken im Fluss. Das unbewegte Wasser glitzert im Mondlicht. Es muss Vollmond sein. Ich kann ihn zwar nicht sehen, aber nur bei Vollmond erreicht das Licht den Waldboden. Der Wasserfall sieht aus wie flüssiges Silber, sein Dröhnen ist leise und beruhigend.
»Warte hier«, sagt er.
»Was –«
»Warte einfach.«
Ich klappe den Mund zu und setze mich auf einen bemoosten Baumstamm am Ufer.
Er geht zum Rand, springt in einem flachen Bogen ins Wasser und schwimmt knapp unter der Oberfläche wie ein Otter. Das Wasser um ihn herum beginnt blau zu leuchten. Im Flussbett muss es irgendwelche biolumineszenten Algen geben, vielleicht Pyrocystis fusiformis, die leuchten, wenn etwas sie stört. Ich halte den Atem an, überwältigt von der gespenstischen Schönheit der Szene. Ich habe dieses Phänomen bisher immer nur unter dem Mikroskop im Labor gesehen. Hier draußen unter dem Dschungelmond ist das blassblaue Licht hundert Mal faszinierender. Eio schwimmt in Licht, sein Körper ein dunkler Schatten, der pfeilschnell zum Wasserfall gleitet.
Er findet Halt auf einem der Felsen unter den Kaskaden und richtet sich auf. Sein Körper teilt den Vorhang aus Wasser. Es spritzt von seinen Schultern und silberne Perlen glitzern, wenn er den Kopf schüttelt. Mein Mund ist wieder leicht geöffnet und ich merke, dass ich seit über einer Minute den Atem angehalten habe. Warum sind wir hier? Sollte ich wütend sein? Aber ich weiß nicht mehr, weshalb. Es spielt auch keine Rolle. Nichts spielt eine Rolle. Mein Kopf schiebt alle Gedanken beiseite und macht Platz für das wunderschöne Bild: Eio, der in dem leuchtenden Fluss steht, während das Wasser über seine Schultern rauscht.
Eio klettert die schlüpfrigen Felsen hinauf und krallt sich schließlich an der Fallkante des Wasserfalls fest. Das Wasser stürzt in zwei silbernen Bändern rechts und links von ihm herunter und kommt direkt unterhalb seiner Hüften wieder zusammen. Es zerrt an seinen Shorts und fast droht das Wasser sie ihm auszuziehen.
Ich schlucke. Mühsam. Und blinzle nicht ein einziges Mal.
Er wird von dem sanften blauen Licht des Teichs unter ihm beschienen. Mein Blick ist so auf Eios Rücken und auf das Spiel seiner Muskeln fixiert, dass ich kaum mitbekomme, was seine Hände tun. Dann dreht er sich um und ich sehe, dass er von einer dicken Liane, die über die Kante des Wasserfalls hängt, eine Passionsblume gepflückt hat. Eio klettert vorsichtig wieder hinunter und gleitet zurück ins Wasser, das wieder heller zu leuchten beginnt. Er hält die Blüte über der Wasseroberfläche, als er durch den lumineszierenden Strom zu mir schwimmt. Dann ist er da, taucht aus dem Wasser auf wie ein Mythos, ein sagenhafter Gott der Ai’oaner. Er streicht sich das nasse Haar aus dem Gesicht, Brust und Schultern glänzen im Mondlicht. Hinter ihm markiert eine helle, schimmernde Spur aus blauem Licht seinen Weg durchs Wasser. Seine nassen Shorts hängen ein gutes Stück tiefer auf seinen Hüften als normalerweise und beflügeln meine Fantasie. Er streckt mir die Blüte hin und ich nehme sie mit zitternden Fingern.
Ich höre ein leises, ersticktes Danke. Es muss aus meinem Mund gekommen sein.
Er schenkt mir ein kleines, schiefes Lächeln. Er weiß ganz genau, was sein Anblick bei mir auslöst. Vermutlich ist er nicht nur wegen der Passionsblume durch das schimmernde Wasser geschwommen.
»Gern geschehen«, sagt er, als er sich neben mich setzt. Und zwar so nah, dass Wasser von seinem Haar auf meine Schulter tropft. Ich wische es nicht weg. Er schaut zu, wie ich die Blüte langsam zwischen meinen Fingern drehe, als wollte er sehen, ob sie mich aufmuntern konnte.
»Sie ist wunderschön«, flüstere ich.
»Schöner als
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