Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
Störung grunzen und brummen sie.
Vor Alais Käfig bleibe ich stehen und schaue hinein. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich ihn in letzter Zeit vernachlässigt habe. Ich habe eine Menge Dinge vernachlässigt, die mir früher wichtig waren.
»Hey, Großer«, flüstere ich, obwohl niemand mithören kann. »Es tut mir leid. Ich lass dich raus, vielleicht schon morgen. Versprochen.«
Er hebt den gefleckten Kopf und blickt mich an. Einen kurzen Augenblick erschrecke ich, weil mir sein Blick so menschlich erscheint. Liegt Tadel darin, weil ich ihn vernachlässigt habe… oder ist es etwas anderes. Er bleibt stumm und kommt nicht zur Tür.
Mein Entschluss steht nicht mehr ganz so fest, als ich zum Ozelotkäfig weitergehe. Jinx hat sich zusammengerollt und schläft, doch Sneeze hebt den kleinen Kopf und seine leuchtend blauen Augen schauen mich über den getüpfelten Vorderbeinen neugierig an.
Objekt 294, sage ich mir. Mehr nicht.
Die Spritze liegt schwer wie Eisen in meiner Tasche, als ich die Käfigtür öffne und hineingehe. Soll ich es hier drinnen tun, wo Jinx es sehen kann? Oder draußen, vor Alai und all den anderen Tieren? Das ist lächerlich. Es sind lediglich Tiere, Pia. Sie haben keine Gefühle.
Ich schließe die Tür hinter mir. Die Metallstangen sind eiskalt. Und du solltest auch keine haben.
Sneezes Körper ist warm und weich. Er ist es gewohnt, von Onkel Jonas hochgenommen zu werden, deshalb wehrt er sich nicht, als ich es tue. Jinx hebt den Kopf und zuckt mit den Schnurrhaaren, doch als sie sieht, dass ich es bin, gähnt sie, entblößt dabei ihre spitzen Fänge und legt sich dann wieder hin. So ahnungslos. So unschuldig.
Lediglich Tiere.
Ich beschließe, ihn aus dem Käfig zu nehmen. Wenn seine Mutter spürt, was ich vorhabe, dreht sie womöglich durch.
An einer Wand steht ein Metalltisch, auf dem Onkel Jonas die Tiere untersucht und behandelt. Er weist Kratzer und Krallenspuren auf und am Rand muss an einer Stelle sogar ein Tier hineingebissen haben. Ich setze Sneeeze ab und streichle ihm über den Rücken. Er macht einen Buckel, schnurrt und reibt seinen Kopf an meiner Hand. Man sieht ihm nicht an, dass er positiv auf FIV getestet wurde.
Ich ziehe die Spritze heraus und spüre Alais Blick, der sich in meinen Rücken bohrt. Meine Hand zittert heftig, dann der ganze Arm. Die Spritze rutscht mir aus der Hand und fällt auf den Boden. Ich zucke zusammen. Zum Glück ist sie nicht zerbrochen. Ich hebe sie auf und muss mit der anderen Hand mein Handgelenk festhalten, damit es nicht zittert. Dafür fängt jetzt mein Atem an zu rasseln wie bei Roosevelt, kurz bevor er starb. Ich komme mir vor wie eine Maraca, einer dieser leeren Flaschenkürbisse, die die Ai’oaner mit getrockneten Bohnen füllen und beim Tanzen schütteln.
»Alles ist gut, alles ist gut«, murmele ich leise, wobei ich nicht weiß, ob die Worte mich oder Sneeze beruhigen sollen. Das Kätzchen blinzelt, gähnt, reckt sich und streckt die kleinen Pfoten vor sich aus.
Tu es einfach, Pia. Nicht nachdenken. Hör auf zu denken. Tu es einfach, dann hast du es hinter dir.
Zitternd setze ich die Spritze an, aber ich bekomme weiche Knie. Ich kann nicht mehr stehen. Ich schnappe mir Sneeze und setze mich mit untergeschlagenen Beinen auf den Boden.
Muss beweisen… nicht Recht und Unrecht… Fortschritt, Rückschritt, Vernunft, Chaos. Leben und Tod.
Sneeze schnuppert an der Spritze und reibt dann schnurrend Kopf und Ohr daran. Die harte, glatte Oberfläche gefällt ihm.
Du bist der Gipfel menschlicher Perfektion… Es gibt kein wertvolleres Gut als dich, Pia… wirklich die größte und nobelste Form der Menschlichkeit…
Er versucht davonzuspringen. Eine Heuschrecke huscht vorbei und Sneeze möchte sich daraufstürzen. Ich halte ihn zurück.
Du musst es tun. Du musst uns beweisen, dass du bereit bist.
Ich nehme eine Hautfalte an Sneezes Nacken zwischen zwei Finger und versuche das heftige Zittern meiner Hand zu unterdrücken. Alai ist aufgestanden und geht in seinem Käfig auf und ab. Er beobachtet mich und sein Schwanz zuckt dabei.
Ohne Reue und ohne Schuldgefühle. Du musst Objekt 294 töten und in der Lage sein, es zu vergessen. Verstehst du das?
»Nein«, flüstere ich und erst da merke ich, dass mir Tränen über die Wangen laufen. »Ich verstehe es nicht.« Alai geht hin und her, hin und her. Er hat Augen wie Eio, so scharf und lebendig und voller Wissen.
Du musst es tun.
»Ich kann nicht!« Ich werfe die Spritze weg und
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