Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
nehme Sneeze hoch, vergrabe mein Gesicht in seinem Fell. »Ich kann es nicht«, flüstere ich. »Ich werde nie stark genug sein.«
Ich höre einen Knall und blicke überrascht auf. Meine Mutter steht in der Tür und beobachtet mich.
»Was – was tust du hier?«, stammle ich. »Ich dachte, du schläfst.«
»Schwach«, kommt als Antwort.
»Was?« Ich drücke das Kätzchen fester an mich.
»Du warst schon immer schwach, Pia. Weich. Emotional. Unfähig.«
»Bin ich nicht! Aber er ist doch noch ein Baby! Was für einen Sinn hat es –«
»Der Sinn«, unterbricht sie mich und kommt auf uns zu. Sie ist noch angezogen, deshalb nehme ich an, dass sie vorhin gar nicht in ihrem Zimmer war, sondern noch mit Onkel Paolo im Labor gearbeitet hat. »Der Sinn liegt darin, dass Onkel Paolo es von dir verlangt. Er ist ein großartiger Wissenschaftler, ein brillanter Mann und es sollte dir eine Ehre sein, an seiner Seite arbeiten zu dürfen.«
»Ist es ja auch –«
Sie beugt sich vor und nimmt mir Sneeze aus den Armen. »Das hast du von deinem Vater, Pia, bestimmt nicht von mir.«
»Was machst du da?«
Sie bückt sich und hebt die Spritze auf. »Das, was du nicht fertiggebracht hast. Paolo hat dir sein Leben gewidmet, Pia. Du bedeutest ihm alles. Ich werde nicht zulassen, dass deine Schwäche ihn seinen Platz in Little Cam kostet. Nicht nach allem, was er für uns getan hat. Du wirst diejenige werden, die er aus dir machen will. Er braucht ja nicht zu wissen, dass wir ein bisschen schummeln.«
»Was tust du – nein!«
Es ist zu spät. Sie sticht die Nadel in die Hautfalte. Ich halte mir die Ohren zu, um Sneezes Wimmern nicht hören zu müssen. Alai knurrt und Jinx setzt sich mit gesträubtem Nackenfell auf. Dann mischt sich auch der Griesgram ein und stimmt sein entsetzliches, lang gezogenes Gebrüll an. Seine Lippen bilden ein großes O. Die anderen Tiere werden durch den Lärm wach und beginnen zu kreischen und zu bellen, zu knurren und zu schnattern. Zu viel Lärm! Stopp, stopp, stopp!
»Aufhören!«, schreie ich meine Mutter und gleichzeitig die verschreckten Tiere an. Sneeze wird schwächer. Sein Schwanz schwingt nicht mehr hin und her und er versucht nicht mehr mit den Pfoten eine Locke meiner Mutter zu erhaschen. Seine Augen verlieren ihren lebendigen Glanz.
Er rührt sich nicht mehr. Mutter wirft ihn neben mir auf den Boden. Er schlägt mit einem entsetzlichen Platschen auf und ich rutsche vor Schreck ein Stück zur Seite.
»Da«, faucht sie, »ich mache die Drecksarbeit und du bekommst die Lorbeeren dafür.«
»Niemals! Ich sage ihm, was du getan hast!«
»Das wirst du nicht tun.« Sie nimmt meine Hand und drückt die Spritze hinein. »Du willst doch nicht, dass die kleine Katze umsonst gestorben ist, oder?«
Sie hält meinen Blick noch eine Weile fest, dreht sich dann auf dem Absatz um und verlässt das Tierhaus. Die Tür schlägt hinter ihr zu. Ich sehe ihr nach und frage mich, ob ich diese Frau überhaupt kenne. Ein Schluchzen steigt in meiner Kehle auf, mein Herz zieht sich zusammen und Tränen rollen mir über die Wangen. Wie konntest du nur, Mutter? Ich denke zurück an die Nacht meiner Geburtstagsparty und daran, wie sicher ich mich während ihrer kurzen, unerwarteten Umarmung gefühlt habe.
War dieser Moment eine Lüge? Ich glaube, ja. Heute Abend war keinerlei mütterliche Wärme in ihrem Blick. Die Erinnerung an diese sanfte Umarmung, die ich wie eine Decke mit mir herumgetragen habe, wurde mir entrissen.
Sie hat gesagt, sie würde alles tun, damit Onkel Paolo in Little Cam bleiben kann. Und sie hat es bewiesen. Meine Mutter stand mir nie wirklich nah. Wichtig waren für sie immer nur Onkel Paolo und das Immortis-Team, ihre Zahlen und Formeln. Aber ich hatte wenigstens bisher das Gefühl, sie zu verstehen. Sie ist die Art von Wissenschaftlerin, die Onkel Paolo auch in mir gern sähe, bestimmt von kühler Vernunft und ausschließlich auf die jeweils anstehende Arbeit konzentriert. Das habe ich immer an ihr bewundert.
Doch jetzt hasse ich sie nur und dafür hasse ich mich selbst. »Sneeze, Sneeze, Sneeze, es tut mir leid, es tut mir leid, es tut mir leid.« Ich schaue hinüber zu Jinx, sehe sie aber kaum durch meine Tränen. »Es tut mir leid, es tut mir leid…«
Ich kann nicht aufhören zu weinen. Wenn das so weitergeht, wird jemand den Lärm der Tiere hören und kommen, um nachzuschauen, was los ist. So darf mich niemand sehen. Schließlich bin ich jetzt eine von ihnen.
Und vor allem:
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