Die Einzige: In deinen Augen die Unendlichkeit (German Edition)
ist grün über Grün über Grün. Die Farbe muss hier erfunden worden sein, in tausend verschiedenen Schattierungen. Vor dem grünen Hintergrund stechen ein Strauch lila Orchideen oder orangefarbene Pilze ins Auge. Das Einzige, das fehlt, ist Alai an meiner Seite, aber ihn auch noch hinauszuschmuggeln, wäre unmöglich gewesen.
Trotz all der Schönheit ringsherum geht mein Blick immer wieder zu Eio. Wir laufen durch das unendliche Grün und er bahnt mir den Weg und achtet darauf, dass die Äste, die er beiseiteschiebt, nicht zurückschwingen und mich treffen. Dabei regnen jedes Mal Wassertropfen auf seine Schultern. Wie Perlen bleiben sie auf seinem Schlüsselbein und dem Nacken liegen. Sein dunkles Haar ist nass, sodass es ihm bis tief in die Augen hängt. Es juckt mich in den Fingern; am liebsten würde ich es ihm aus der Stirn streichen.
Dank Eio erreichen wir Ai’oa in weniger als einer Stunde. Ich hätte das Dorf auch allein gefunden, aber es hätte länger gedauert, da ich diesen Weg noch nie gegangen bin.
Die Dorfbewohner laufen dieses Mal nicht alle zusammen, um mich zu begrüßen. Einige rufen mir etwas zu oder winken, aber weder Blumengirlanden noch Tänze heißen mich heute willkommen. Ich frage mich, ob ich überhaupt willkommen bin. Eio muss mein Zögern bemerkt haben, denn er erklärt mir, dass eine Person, für die man ein Willkommensfest veranstaltet hat, für immer zum Dorf gehört und wie jeder andere Dorfbewohner behandelt wird.
»Für sie bin ich jetzt eine Ai’oanerin?«
»Gewissermaßen, ja.«
»Bekommt jeder Besucher ein Willkommensfest?«
Er schaut mir fest in die Augen. »Nein. Nur du, weil du das Mal hast. Und mein Vater hat eines bekommen, weil er meine Mutter liebte und sich als Freund des Dorfes erwiesen hat.«
Ich bin mir nicht sicher, ob ich mich geehrt fühlen oder Angst haben soll. Was erwarten sie von mir, wenn sie mich für eine der Ihren halten? Warum bin ich überhaupt wiedergekommen? Dachte ich wirklich, wir würden jedes Mal den ganzen Tag lang tanzen und lachen? Was erwarte ich von ihnen?
»Eio«, flüstere ich, »ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Er schaut mich an, als hätte ich ihn gefragt, wie Blau schmeckt. »Sei einfach du selbst.«
Ein kleines Mädchen, das mir gerade mal bis zur Hüfte reicht, kommt angelaufen und springt Eio auf den Rücken. Er lacht und versucht sie zu kitzeln, doch sie zieht ihn an den Haaren und er hört auf. Ich erinnere mich an sie; sie war diejenige, die stundenlang dicht neben mir stand und alles, was ich tat, mit großen, neugierigen Augen beobachtete.
»Eio!«, kreischt sie. »Du hast sie zurückgebracht! Wie du es versprochen hast!« Ich lächle sie an. Ihr Englisch ist sehr gut. Ihr ai’oanischer Akzent macht die Konsonanten ein wenig weicher und verleiht den Vokalen einen Klang, wie ich es in Little Cam noch nie gehört habe.
»Wenn ich sage, ich gehe zum Fluss, um einen Fisch zu fangen«, erwidert Eio, »komme ich immer mit einem Fisch zurück. Hast du etwa an mir gezweifelt, Ami?«
»Keine Sekunde, aber Pichira und Akue haben es nicht geglaubt, weil du nicht über den Gewitterzaun klettern kannst.« Sie schaut mich über seine Schulter hinweg an. »Hallo, Pia-Vogel. Wo ist dein Jaguar?«
»Hallo«, grüße ich schüchtern zurück. »Alai konnte heute nicht kommen. Du heißt Ami? Ein schöner Name.«
»Er bedeutet frech«, erklärt Eio.
»Er bedeutet perfektes Kind.« Sie blickt mit einem listigen Grinsen von Eio zu mir. »Eio behauptet, du bist perfekt, Pia-Vogel. Er sagt, du bist das perfekteste Mädchen, das er je gesehen hat.«
Eio wird rot, schüttelt sie ab und brüllt, dass er sie an eine Anakonda verfüttert. Schreiend und lachend versteckt sie sich hinter mir. Ich lache mit.
»Sagt er das?«, frage ich. »Und was noch?«
Sie zieht die Nase kraus und denkt nach. »Dass deine Augen wie kleine Stückchen Himmel sind, die man durch die Blätter sieht. Und dass du wie der Regen den Schmutz von den Blättern wäschst… Wie hat er sich gleich wieder ausgedrückt? Oh ja, dass du die Dunkelheit von der Welt abwäschst.«
»Er… das hat er gesagt?« Jetzt werde ich rot.
Eio nimmt uns beide an den Händen. »Komm mit, du Satansbraten. Wir wollen Pia zeigen, wo wir schwimmen.«
18
»Hier ist es!«, verkündet Ami.
Ich weiß jetzt schon, dass ich unser Schwimmbecken nie mehr werde genießen können, nicht nachdem ich das hier gesehen habe. Ein kristallklarer Wasserfall ergießt sich aus ungefähr sechs Metern
Weitere Kostenlose Bücher