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Die einzige Wahrheit

Die einzige Wahrheit

Titel: Die einzige Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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lieber mit ihnen zusammen war als mit Stephen, und nicht bloß darauf wartete, so schnell wie möglich wegzukommen. Diese Menschen waren mir in den letzten Monaten ans Herz gewachsen.
    Stephen hob die Hände. »Wie du möchtest, Ellie. Dann eben Abendbrot mit Ma und Pa auf dem Lande.«
    »Herrgott noch mal, Stephen. Sie mögen sich ja anders kleiden und öfter beten als du, aber das heißt nicht, daß sie es nicht mitkriegen, wenn du dich benimmst wie ein Idiot.«
    Stephen nahm Vernunft an. »Ich wollte niemanden beleidigen. Ich hab nur gedacht, nach – wie lange bist du hier? Vier Monaten? – hättest du vielleicht Lust auf ein bißchen intellektuelles Geplauder.« Er nahm meine Hand und zog mich von der Tür weg, so daß Sarah und Katie uns nicht mehr sehen konnten. »Du hast mir gefehlt«, gestand er. »Ehrlich gesagt, wollte ich dich ganz für mich allein haben.«
    Ich sah, wie er näher kam, um mich zu küssen, und ich erstarrte – ein Reh im Scheinwerferlicht, hilflos. Stephens Mund lag warm auf meinem, seine Hände glitten über meinen Rücken, meine Gedanken überschlugen sich. Wie kam es, daß ich mich nach acht Jahren in Stephens Armen weniger geborgen fühlte als in Coops? Mit einem kläglichen, angespannten Lächeln drückte ich mit beiden Händen gegen Stephens Brust. »Jetzt nicht«, flüsterte ich. »Wie wär’s, wenn du dich ein bißchen auf der Farm umguckst, während ich in der Küche helfe?«
    Eine Stunde später versammelte sich die Familie um den Tisch, und alle meine Bedenken wegen Stephen wurden zerstreut. Beim stummen Gebet neigte er ernst den Kopf, Sarah gegenüber war er so charmant, daß sie schließlich jedesmal puterrot anlief, wenn sie ihm eine Schüssel reichte, und er unterhielt sich angeregt über Silofutter. Stephen war ein meisterhafter Schauspieler. Als Sarah das Hauptgericht auftrug – Schmorbraten, Geflügelpastete und Pute Stroganoff – war ich endlich so entspannt, daß ich einen ersten Bissen zu mir nehmen konnte.
    Es klopfte an der Tür, als Katie gerade erzählte, wie die Kühe einmal bei einem Schneesturm aus dem Stall ausgebrochen waren. »Hallo zusammen«, sagte Coop, während er eintrat und seinen Mantel auszog. »Bin ich zu spät, oder gibt’s noch Nachtisch?«
    Coop gehörte fast schon so zur Familie wie ich. Sogar Aaron reagierte schon lange nicht mehr ungehalten, wenn Sarah Coop zum Abendessen einlud. Wir blickten einander tief in die Augen – mehr Kontakt erlaubten wir uns im Beisein von anderen nicht. Dann bemerkte er Stephen.
    Stephen war bereits aufgestanden, eine Hand auf meiner Schulter, die andere ausgestreckt. »Stephen Chatham«, sagte er mit einem fragenden Lächeln. »Kennen wir uns?«
    »John Cooper. Und ja, ich glaube, wir sind uns schon mal begegnet«, sagte Coop so gelassen, daß ich ihn auf der Stelle hätte küssen können. »In der Oper.«
    »Es war ein Konzert«, murmelte ich.
    Beide Männer sahen mich an.
    »Katie ist Coops Patientin«, erklärte ich.
    »Coop«, wiederholte Stephen nachdenklich, und ich sah förmlich, wie sein Gehirn die Verbindungen herstellte: der Spitzname, die Fotos, die hinten in meinem College-Jahrbuch steckten, die vertraulichen Gespräche, die wir engumschlungen im Dunkeln über unsere Verflossenen geführt hatten, als wie uns noch miteinander sicher und geborgen gefühlt hatten. »Ach ja, richtig. Sie kennen Ellie vom College her.«
    Coop sah mich zögernd an, als befürchtete er, daß sich irgendwelche unkontrollierten Emotionen in seinem Gesicht widerspiegeln könnten. »Jaja. Ist lange her.«
    Nie war ich dankbarer für die Ansicht der Amischen, daß intime Beziehungen nur die Beteiligten etwas angingen. Katie zerschnitt das Fleisch auf ihrem Teller; Sarah war eingefallen, daß sie sich in der Küche um irgend etwas kümmern mußte; die Männer unterhielten sich darüber, wann die Silos gefüllt werden mußten. Ich atmete einmal tief durch und sagte dann mit schriller Stimme. »Wer hat noch Appetit?«
    Draußen pfiff ein leichter Wind durch die Bäume. Stephen und ich gingen spazieren, so dicht nebeneinander, daß wir die Körperwärme des anderen spüren konnten, ohne uns zu berühren. »Der ganze Fall steht und fällt mit der Aussage der forensischen Psychologin«, erklärte ich ihm. »Wenn die Geschworenen ihr nicht glauben, ist Katie geliefert.«
    »Dann wollen wir hoffen, daß die Geschworenen ihr glauben«, sagte Stephen höflich, obwohl ich wußte, daß wir seiner Meinung nach nicht den Hauch einer

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