Die einzige Wahrheit
Chance hatten.
»Vielleicht kommt es gar nicht soweit. Vielleicht kann ich eine Einstellung wegen Verfahrensmängeln erreichen.«
Stephen klappte seinen Jackettkragen hoch. »Wie das?«
»Ich hab einen entsprechenden Antrag gestellt, mit der Begründung, daß keiner der Geschworenen aus Katies sozialem Umfeld stammen wird.«
Stephen prustete los. »Himmel, El. Das kriegst du nie im Leben durch, aber es ist einen Versuch wert. Diese Provinzrichterin wird nicht wissen, wie ihr geschieht.« Mit einem großen Schritt trat er vor mich, so daß ich in seine ausgebreiteten Arme lief. »Du bist mir vielleicht eine«, flüsterte er in mein Ohr.
Vielleicht lag es an der Art, wie ich auf seine Umarmung reagierte, an dem Bruchteil einer Sekunde, den mein Körper brauchte, bis er sich an seinen schmiegte – irgend etwas ließ Stephen jedenfalls zurücktreten. Er legte eine Hand an meine Wange und fuhr mit dem Daumen über mein Kinn. »So ist das also?« sagte er sanft.
Einen Augenblick lang zögerte ich, knüpfte in Gedanken ein Netz, mit dem ich ihn würde auffangen können, wenn er fiel, so, wie ich Coop vor Jahren bei unserer Trennung angelogen hatte. Ich war immer der Meinung, daß gewisse Lügen gerechtfertigt sind: Ich bin nicht gut genug für dich; ich habe im Moment zuviel um die Ohren, um mich auf eine Beziehung konzentrieren zu können; ich brauche einfach Zeit für mich .
Dann dachte ich an Katie, wie sie vor ihrer versammelten Gemeinde kniete und das sagte, was sie hören wollte.
Ich legte meine Hand auf seine. »Ja. So ist das.«
Er zog unsere ineinander verschränkten Finger nach unten, so daß unsere Arme zwischen uns hin und her schwangen. Stephen, der doch immer so selbstsicher wirkte, erschien mir plötzlich hohl und zerbrechlich. Er hob meine Hand, so daß sie sich öffnete wie eine Rose. »Liebt er dich?«
»Ja.« Ich schluckte und steckte meine Hand in die Tasche.
»Liebst du ihn?«
Ich antwortete nicht sofort. Ich wandte den Kopf, so daß ich das gelbe Rechteck aus Licht sehen konnte, das das Küchenfenster war, und die Silhouetten von Sarah und Coop, die über die Spüle gebeugt standen. Coop hatte sich angeboten, den Tisch mit ihr abzuräumen, so daß Stephen und ich spazierengehen konnten. Ich fragte mich, ob er wohl an mich dachte, ob er Bedenken hatte, was ich sagen würde.
Stephen lächelte schwach, als ich ihn wieder ansah. Er legte einen Finger auf meine Lippen. »Frage beantwortet«, sagte er, dann gab er mir einen sanften Kuß auf die Wange, wandte sich um und ging zu seinem Wagen.
Ich schlenderte noch eine Weile allein weiter, den Bach entlang und bis zum Teich, wo ich mich auf die kleine Bank setzte. Obwohl ich die Trennung von Stephen gewollt hatte, als ich Philadelphia verließ, hatte ich jetzt dennoch das Gefühl, einen Schlag in die Magengrube bekommen zu haben. Ich zog die Knie an und sah zu, wie der Mond Schriftzeichen aufs Wasser kritzelte, lauschte den Geräuschen der Erde, die sich zur Nachtruhe bettete.
Als er kam, streckte er mir nur seine Hand entgegen. Ohne ein Wort stand ich auf, ließ mich in Coops Arme ziehen und hielt mich an ihm fest.
Sarah stützte sich auf ihre Schaufel und hob das Gesicht zum Himmel. Ich wischte mir mindestens zum hundertsten Mal an diesem Tag den Schweiß von der Stirn. Katie lachte. »Als wir letztes Jahr die Silos gefüllt haben, hatten wir fast dreißig Grad. Altweibersommer.«
Sarah schirmte mit der Hand die Augen ab und blinzelte übers Feld. »Oh, da kommen sie!«
Der Anblick verschlug mir den Atem. Aaron und Samuel lenkten ein Maultiergespann, das ein benzinbetriebenes, rund zwei Meter hohes und vorn mit Messern ausgestattetes Gerät zog, mit dem der Futtermais geschnitten und sofort zu Garben gebündelt wurde. Daneben lenkte Levi ein zweites Gespann. Es zog einen Wagen, auf dem Coop stand und die langen Bündel aus der Bindemaschine auf der Ladefläche stapelte.
Als Coop mich sah, lachte er und winkte mir zu. Er trug einen von Aarons breitkrempigen Hüten zum Schutz gegen die Sonne.
»Wie guckst du denn«, neckte Katie mich. »Du bist ja ganz verhuddelt .«
Ich hatte keine Ahnung, was sie meinte, aber es klang so, wie ich mich fühlte. Ich lächelte Coop zu und wartete, daß er von dem Wagen sprang. Levi, ganz der lässige junge Bursche, marschierte zu dem Förderband unter dem Silo und schloß es an, so daß der Benzinmotor das Band, den Häcksler und das Gebläse antreiben konnte, das den Mais durch einen Schacht hinauf ins
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