Die einzige Wahrheit
und rückte ein kleines Stück nach rechts, um Platz zu machen.
Es war lange her, daß Ellie gebetet hatte, wirklich gebetet, nicht ein kurzes Stoßgebet in letzter Minute, wenn die Geschworenen wieder in den Saal kamen oder wenn sie mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren war? Was hatte sie zu verlieren? Ellie glitt von ihrem Sessel und kniete sich neben Sarah, als gehörte sie dazu, als könnten ihre Gedanken erhört und ihre Hoffnungen erfüllt werden.
»Bono Gerhardt«, sagte der Mann und streckte die Hand aus. »Freut mich.«
Ellie lächelte den Mikrobiologen an, mit dem Owen Zeigler sie soeben bekannt gemacht hatte. Der Mann war höchstens 1,65 groß. Er trug einen weißen Haarschutz, der mit Zebras und Äffchen bedruckt war. Ein guatemaltekisches Sorgenpüppchen war an sein Revers geheftet. Um den Hals trug er einen Kopfhörer, der mit einem Discman in seiner rechten Tasche verbunden war. »Sie haben die Inkubation verpaßt«, sagte er, »aber ich will Ihnen noch mal verzeihen, daß Sie erst nach dem ersten Akt kommen.«
Bono führte sie zu einem Tisch, auf dem einige Objektträger bereitlagen. »Wir versuchen im Grunde, den Organismus, den Owen gefunden hat, durch eine Peroxidase-färbung zu identifizieren. Ich habe von dem Paraffingewebeblöckchen weitere Proben entnommen und sie mit einem Antikörper inkubiert, der auf Listerien reagiert – das ist das Bakterium, das wir identifizieren wollen. Hier haben wir unsere positiven und negativen Kontrollen: Listerienproben, die die Veterinärabteilung uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, und diphtheroide Erreger. Und nun, hochverehrtes Publikum, der Augenblick der Wahrheit.«
Ellie hielt die Luft an, als Bono ein paar Tropfen einer Lösung auf die erste Probe träufelte.
»Das ist Meerrettich-Peroxidase, ein Enzym, das an einen Antikörper gebunden ist«, erklärte Bono. »Theoretisch geht dieses Enzym nur dahin, wo die Listerien sind.«
Ellie sah zu, wie er nacheinander alle Objektträger auf dem Tisch beträufelte. Schließlich hielt er ein kleines Fläschchen hoch. »Jod?« riet sie.
»Fast. Bloß ein Färbemittel.« Er gab jeder Probe ein paar Tropfen bei, und dann schob er die erste unters Mikroskop. »Wenn das keine Listerien sind«, murmelte Bono, »häng ich meinen Beruf an den Nagel.«
Ellie blickte von einem zum anderen. »Was hat das zu bedeuten?«
Owen blinzelte ins Mikroskop. »Ich hab Ihnen doch gesagt, daß die Nekrose in der Leber wahrscheinlich auf eine Infektion zurückzuführen sei. Und das hier ist das Bakterium, das sie ausgelöst hat.«
Ellie spähte selbst durch das Mikroskop, doch sie sah nur kleine Teilchen, die aussahen wie braungeränderte Reiskörnchen.
»Das Neugeborene hatte Listeriose«, sagte Owen.
»Dann ist es nicht erstickt?«
»Doch. Aber es war eine Kette von Ereignissen. Der Erstickungstod war auf die verfrühte Geburt zurückzuführen, die wiederum durch Chorioamionitis ausgelöst wurde – für die die Listeriose verantwortlich war. Das Baby hat sich bei der Mutter angesteckt. Bei ungeborenen Feten ist diese Infektion in fast dreißig Prozent aller Fälle tödlich, wohingegen sie bei der Mutter unbemerkt bleiben kann.«
»Das Baby ist also eines natürlichen Todes gestorben.«
»Richtig.«
Ellie grinste. »Owen, das ist phantastisch. Genau so etwas hatte ich mir erhofft. Und wo hat sich die Mutter infiziert?«
Owen sah Bono an. »Das ist der Teil, der dir nicht gefallen wird, Ellie. Listeriose ist nicht zu vergleichen mit Angina – man fängt sie sich nicht einfach so ein. Die Chancen, daß eine Schwangere sich infiziert, stehen eins zu zwanzigtausend. Eine Infektion erfolgt für gewöhnlich durch den Genuß kontaminierter Nahrung, und beim heutigen Stand der Technik sind die speziellen Krankheitserreger so gut wie getilgt, wenn die Nahrung beim Verbraucher ankommt.«
Ellie verschränkte ungeduldig die Arme. »Was für Nahrung?«
Der Pathologe zog die Schultern hoch. »Wie hoch stehen die Chancen, daß deine Mandantin während der Schwangerschaft nichtpasteurisierte Milch getrunken hat?«
12
Ellie
D ie kleine Bibliothek im Gerichtsgebäude befand sich genau über dem Zimmer von Richterin Ledbetter. Obwohl ich eigentlich die jüngsten, auf Präzedenzfällen beruhenden Urteile in Neonatizid-Prozessen durcharbeiten wollte, hatte ich in den vergangenen zwei Stunden überwiegend auf den abgetretenen Holzboden gestarrt, als könnte ich durch die Ritzen hindurch das Herz der Richterin
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