Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die einzige Wahrheit

Die einzige Wahrheit

Titel: Die einzige Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
anderen Möglichkeit, sich die Schwangerschaft nicht eingestehen zu müssen. In meinen ersten Gesprächen mit Katie erzählte sie mir, daß sie sich am Abend vor der Geburt krank fühlte, daß sie früh zu Bett ging und keine Erinnerung an die Zeit bis zum Aufwachen am nächsten Morgen hatte. Natürlich belegen die Tatsachen eindeutig, daß sie irgendwann während dieser Stunden ein Kind geboren hatte.«
    »War das der neue Bewältigungsmechanismus – ein Erinnerungsverlust?«
    »Eine Erinnerungslücke, aufgrund von Dissoziation.«
    »Woher wissen Sie, daß Katie nicht schon von dem Augenblick an dissoziiert hat, als sie feststellte, daß sie schwanger war?«
    »Weil bei ihr dann wahrscheinlich eine multiple Persönlichkeitsstörung vorläge. Jemand, der sein Bewußtsein über so viele Monate hinweg spaltet, würde eine andere Identität entwickeln. Es ist allerdings möglich, das Bewußtsein abzuspalten, um kurze traumatische Phasen durchzustehen, und bei Katie wäre das durchaus logisch.« Er zögerte. »Man muß nicht unbedingt verstehen, was Katie für einen Abwehrmechanismus angewandt hat und ob das bewußt oder unbewußt erfolgte. Entscheidender ist zu verstehen, warum sie das Bedürfnis hatte, sich vor dem Wissen zu schützen, daß sie schwanger war und ein Kind zur Welt brachte.«
    Ich nickte. »Hat sie sich schließlich daran erinnert, was während und nach der Geburt passierte?«
    »Bis zu einem gewissen Grad«, sagte Coop. »Sie erinnert sich, daß sie keine Blutflecken in ihre Bettwäsche machen wollte. Sie erinnert sich, daß sie in den Stall gegangen ist, um zu entbinden, und unglaublich große Angst hatte. Sie erinnert sich, daß sie die Nabelschnur durchtrennt und abgebunden hat. Sie weiß, daß sie das Kind in den Arm genommen und an sich gedrückt hat. »Sie erinnert sich, daß sie ihm den Finger zum Saugen gegeben hat, bevor sie die Augen schloß, weil sie so müde war. Und als sie aufwachte, war das Baby nicht mehr da.«
    »Nach dem, was Sie über Katie wissen, was ist Ihrer Meinung nach mit dem Baby passiert?«
    »Einspruch«, sagte George. »Mutmaßung.«
    »Euer Ehren, sämtliche Zeugen der Anklagevertretung haben in dieser Sache Mutmaßungen angestellt«, wandte ich ein.
    »Und Dr. Cooper ist als Katies Therapeut weitaus qualifizierter als jemand anderes, etwas darüber zu sagen.«
    »Einspruch abgelehnt, Mr. Callahan. Dr. Cooper, bitte beantworten Sie die Frage.«
    »Meiner Ansicht nach starb das Baby in ihren Armen eines natürlichen Todes. Dann hat sie den Leichnam versteckt – nicht gut, weil sie zu diesem Zeitpunkt wie ein Roboter handelte.«
    »Wie kommen Sie zu dieser Ansicht?«
    »Auch das hat wieder damit zu tun, daß sie eine Amische ist. Ein uneheliches Kind zu bekommen ist bei den Amischen zwar verpönt, aber letzten Endes keine Tragödie. Katie wäre für eine gewisse Zeit unter Bann gestellt, aber dann wieder in den Schoß der Gemeinschaft aufgenommen worden, weil Kinder bei den Amischen einen sehr hohen Stellenwert haben. Nach dem Streß der Geburt hätte Katie sich schließlich der Tatsache stellen müssen, daß sie ein uneheliches Kind geboren hatte, aber ich bin überzeugt, daß sie damit klargekommen wäre, wenn das Kind gelebt hätte und für sie real gewesen wäre – sie liebt Kinder, sie hat den Vater des Kindes geliebt, und sie hätte den vorübergehenden Ausschluß verkraftet, weil ihr Fehltritt etwas Schönes hervorgebracht hatte.«
    Coop zuckte die Achseln. »Doch das Baby ist in ihren Armen gestorben, während sie vor Erschöpfung bewußtlos war. Als sie wach wurde, war sie blutbeschmiert und hielt ein totes Baby in den Armen. Sie gab sich die Schuld am Tod ihres Sohnes: Für sie war er gestorben, weil er nicht ehelich gezeugt worden war, innerhalb der amischen Gemeinde.«
    »Verstehe ich Sie richtig, Doktor? Sie glauben also nicht, daß Katie ihr Kind getötet hat?«
    »Nein. Wenn sie ihr Kind getötet hätte, wäre es Katie so gut wie unmöglich gewesen, wieder in die Gemeinde aufgenommen zu werden. Ich bin zwar kein Experte für pazifistische Gesellschaftsformen, aber ich denke, das wäre die Folge im Falle eines Mordes. Da Katie während der gesamten Schwangerschaft in erster Linie von dem Gedanken beseelt war, Mitglied der Gemeinde zu bleiben, traf das mit Sicherheit auch während der Geburt zu. Ich denke, wenn das Baby am Leben gewesen wäre, als sie aufwachte, hätte sie sich vor der Gemeinde zu ihrer Sünde bekannt, das Kind bei den Eltern großgezogen

Weitere Kostenlose Bücher