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Die einzige Wahrheit

Die einzige Wahrheit

Titel: Die einzige Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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herausgefunden?«
    Er lächelte. »Katie ist kein gewöhnliches junges Mädchen. Bevor ich sie richtig verstehen konnte, mußte ich begreifen, was es bedeutet, amisch zu sein. Das kulturelle Umfeld, in dem Kinder aufwachsen, hat einen entscheidenden Einfluß auf ihre Handlungsweisen als Erwachsene.«
    »Wir haben inzwischen ein wenig über amische Kultur erfahren. Was hat Sie als Katies Psychologe besonders interessiert?«
    »Unsere Kultur fördert Individualität, die Amischen dagegen sind tief verwurzelt in ihrer Gemeinschaft. Bei uns wird Verschiedenartigkeit nicht nur respektiert, sondern sogar erwartet. Bei den Amischen ist kein Platz für Abweichung von der Norm. Gleichheit bestimmt die amische Gesellschaft. Wer sich nicht anpaßt, für den sind die Folgen in psychologischer Hinsicht tragisch – er steht allein da, wo er doch nichts anderes gekannt hat, als Teil der Gruppe zu sein.«
    »Inwiefern hat Ihnen das geholfen, Katie besser zu verstehen?«
    »Nun«, sagte Coop, »in Katies Vorstellungswelt ist Verschiedenheit gleichbedeutend mit Scham, Ablehnung und Scheitern. Noch tiefer sitzt bei Katie die Angst, aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden. Sie hat es bei ihrem Bruder erlebt, und sie wollte auf keinen Fall, daß ihr das gleiche widerfährt. Sie wollte heiraten, Kinder haben, aber sie war immer ganz selbstverständlich davon ausgegangen, daß es bei ihr so ablaufen würde wie bei allen anderen in ihrer Welt. Wenn herausgekommen wäre, daß sie schwanger war, von einem englischen Mann, und noch dazu als Unverheiratete – beides ein eklatanter Verstoß gegen die amische Norm – nun, das hätte unausweichlich ihren Ausschluß aus der Gemeinschaft nach sich gezogen, eine Vorstellung, die sie psychisch nicht verkraften konnte.«
    Ich hörte ihn über Katie sprechen, dachte aber dabei an mich selbst. Meine Hand legte sich auf meinen Bauch. »Was meinen Sie damit?«
    »Sie war mit der klaren Vorgabe erzogen worden, daß es nur einen Weg gibt «, sagte er. »Daß es unakzeptabel wäre, wenn ihr Leben nicht auf diesem Weg verlaufen würde.«
    Coops Worte schlangen sich so eng um mich, daß ich nur mit Mühe Luft bekam. »Es war nicht ihre Schuld«, brachte ich hervor.
    »Nein«, sagte Coop nachdenklich. »Das versuche ich ihr seit einer Weile verständlich zu machen.«
    Der Raum wurde enger, die Menschen verblaßten, und die Geräusche wurden leiser. »Es ist schwer, eine gewohnte Sichtweise aufzugeben.«
    »Ja, und deshalb tat sie es nicht. Konnte es nicht. Die Schwangerschaft«, sagte Coop, »hat ihre Welt auf den Kopf gestellt.«
    Ich schluckte. »Wie hat sie reagiert?«
    »Sie hat so getan, als wäre die Schwangerschaft unwichtig, obwohl sie das Wichtigste auf der Welt war. Obwohl sich ihr Leben dadurch zwangsläufig veränderte.«
    »Vielleicht … hatte sie einfach Angst, den ersten Schritt zu machen.«
    Tiefe Stille hatte sich im Gerichtssaal ausgebreitet. Ich sah, wie Coops Lippen sich öffneten, ich wartete, daß er mir Absolution erteilte.
    »Einspruch!« sagte George. »Ist das eine Zeugenbefragung oder eine Beichtstunde?«
    Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen und spürte, wie ich rot wurde.
    »Stattgegeben«, sagte Richterin Ledbetter. »Ms. Hathaway, könnten Sie bitte wieder zur Sache kommen?«
    »Ja, Euer Ehren. Tut mir leid.« Ich räusperte mich und wandte mich bewußt von Coop ab. »Als Katie feststellte, daß sie schwanger war, was hat sie da gemacht?«
    »Nichts. Sie hat den Gedanken verdrängt. Ihn ausgeblendet. Die Auseinandersetzung damit vor sich hergeschoben. Wie Kinder, die denken, sie wären unsichtbar, wenn sie die Augen schließen, dachte sie, wenn sie es nicht aussprach, daß sie schwanger war, dann war sie es nicht. Hätte sie sich selbst eingestanden, daß sie schwanger war, hätte sie es auch vor ihrer Gemeinde tun müssen. Sie hätte öffentlich ihre Sünden bekennen müssen, und sie wäre für kurze Zeit unter den Bann gestellt worden, bevor ihr vergeben worden wäre.«
    »Die Schwangerschaft ignorieren – das klingt nach einer bewußten Entscheidung.«
    »Das ist es nicht, weil Katie eigentlich keine andere Wahl hatte. In ihrem Kopf war das der einzige sichere Weg, nicht aus der Gemeinschaft ausgeschlossen zu werden.«
    »Als aber dann die Wehen einsetzten, konnte sie es nicht mehr vor sich selbst verbergen. Was passierte dann?«
    »Der Verdrängungsmechanismus«, sagte Coop, »brach offensichtlich zusammen, und ihre Psyche suchte verzweifelt nach irgendeiner

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