Die einzige Wahrheit
sich in den Zeugenstand, füllte ihn ganz aus, seine großen Hände balancierten auf den Knien, den Hut hatte er unter den Stuhl geschoben. »Bitte nennen Sie uns Ihren Namen und Ihre Adresse.«
Er räusperte sich. »Samuel Stoltzfus. Blossom Hill Road, East Paradise Township.« Er zögerte, fügte dann hinzu: »Pennsylvania, USA.«
»Danke, Mr. Stoltzfus.«
»Ellie«, flüsterte er, »Sie können Samuel zu mir sagen.«
Ich lächelte ihn an. »Okay, Samuel. Sind Sie ein wenig nervös?«
»Ja.« Das Wort kam mit einem erleichterten Lachen heraus.
»Das kann ich mir denken. Waren Sie schon einmal in einem Gerichtssaal?«
»Nein.«
»Hätten Sie je gedacht, daß Sie mal einen Gerichtssaal betreten würden?«
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Es widerspricht unserer Überzeugung, ein Gericht zu bemühen, also habe ich nie einen Gedanken daran verschwendet.«
»Mit ›uns‹ meinen Sie wen?«
»Die Gemeinde«, sagte er.
»Die Amischen?«
»Ja.«
»Hat man Sie gebeten, heute als Zeuge auszusagen?«
»Nein. Ich bin aus eigenem Entschluß hier.«
»Sie haben sich freiwillig in eine unangenehme Situation begeben? Warum?«
Seine klaren blauen Augen richteten sich auf Katie. »Weil sie ihr Baby nicht ermordet hat.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ich kenne sie mein ganzes Leben lang. Ich sehe sie seit Jahren jeden Tag. Jetzt arbeite ich auf der Farm von Katies Vater.«
»Was machen Sie dort?«
»Alles, was Aaron mir sagt. Vor allem helfe ich beim Anpflanzen und bei der Ernte. Ach ja, und beim Melken. Es ist auch eine Milchfarm.«
»Wann werden die Kühe gemolken, Samuel?«
»Um halb fünf Uhr morgens und um halb sieben Uhr abends.«
»Was für Arbeiten fallen dabei an?«
George zog die Augenbrauen hoch. »Einspruch. Brauchen wir einen Vortrag über die Bewirtschaftung einer Farm?«
»Das sind wichtige Basisfragen, Euer Ehren«, erklärte ich.
»Einspruch abgelehnt. Mr. Stoltzfus, bitte beantworten Sie die Frage.«
Samuel nickte. »Also, zuerst mischen wir das Futter. Dann misten wir den Stall aus. Aaron hat zwanzig Kühe, das dauert eine Weile. Dann wischen wir die Zitzen sauber und setzen die Milchpumpe auf, die mit einem Generator betrieben wird. Zwei Kühe werden gleichzeitig gemolken, habe ich das schon gesagt? Die Milch läuft in eine Kanne, die wir dann in den Tank kippen. Und meistens müssen wir zwischendurch unterbrechen und hinter den Kühen wieder ausmisten.«
»Wann holt der Laster von der Molkerei die Milch?«
»Alle zwei Tage, außer am Tag des Herrn. Wenn der auf einen Sonntag fällt, kommt der Laster zu den merkwürdigsten Zeiten, zum Beispiel samstags um Mitternacht.«
»Wird die Milch pasteurisiert, bevor der Laster sie abholt?«
»Nein, das macht die Molkerei.«
»Kaufen die Fishers ihre Milch im Supermarkt?«
Samuel grinste. »Das wäre albern, oder? Als würde man Speck kaufen, obwohl man gerade ein Schwein geschlachtet hat. Die Fishers trinken ihre eigene Milch. Ich muß Katies Mutter zweimal am Tag einen Krug bringen.«
»Dann ist die Milch, die die Fishers trinken, also noch nicht pasteurisiert?«
»Nein, aber sie schmeckt genauso wie die aus den weißen Plastikpackungen. Finden Sie nicht auch? Sie haben sie ja getrunken.«
»Einspruch – könnte der Zeuge bitte daran erinnert werden, daß er keine Fragen stellen darf?« sagte George.
Die Richterin beugte sich zur Seite. »Mr. Stoltzfus, ich fürchte, der Vertreter der Anklage hat recht.«
Der große Mann wurde rot und schlug die Augen nieder. »Samuel«, sagte ich rasch, »wieso meinen Sie, daß Sie Katie so gut kennen?«
»Ich habe sie schon in so vielen Situationen erlebt, daß ich weiß, wie sie ist, wenn sie traurig ist, wenn sie fröhlich ist. Ich habe sie erlebt, nachdem ihre Schwester ertrunken war, und als ihr Bruder für immer aus der Gemeinde ausgeschlossen wurde. Und wir sind auch miteinander gegangen, das hat vor zwei Jahren angefangen.«
»Ihr wart also ein Paar?«
»Ja.«
»Wart ihr noch zusammen, als Katie das Baby bekommen hat?«
»Ja.«
»Waren Sie bei der Geburt dabei?«
»Nein«, sagte Samuel. »Ich habe erst danach davon erfahren.«
»Haben Sie gedacht, das Baby wäre von Ihnen?«
»Nein.«
»Warum nicht?«
Er räusperte sich. »Wir haben nie zusammen geschlafen.«
»Wissen Sie, wer der Vater des Kindes war?«
»Nein. Katie wollte es mir nicht sagen.«
Ich versuchte, besonders freundlich zu klingen. »Wie war das für Sie?«
»Sehr schwer. Sie war doch meine Freundin. Ich habe
Weitere Kostenlose Bücher