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Die einzige Wahrheit

Die einzige Wahrheit

Titel: Die einzige Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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nicht verstanden, was passiert war.«
    Ich wartete einen Moment, einfach, damit die Geschworenen Samuel ansehen konnten. Einen kräftigen, gutaussehenden, seltsam gekleideten Mann, der versuchte, mit einer für ihn völlig ungewohnten Situation fertigzuwerden. »Samuel«, sagte ich. »Ihre Freundin wird schwanger von einem anderen, das Baby wird unter rätselhaften Umständen tot aufgefunden, und obwohl Sie von den Ereignissen überrollt werden, obwohl es Sie verunsichert, vor Gericht auszusagen, sind Sie trotzdem hier, um uns zu sagen, daß Katie keinen Mord begangen hat?«
    »Das ist richtig.«
    »Wieso stehen Sie weiterhin zu Katie, obwohl sie Ihnen doch so weh getan hat?«
    »Sie haben völlig recht, Ellie. Eigentlich müßte ich sehr wütend sein. Ich war es auch eine Zeitlang, aber jetzt nicht mehr. Ich habe meine Selbstsucht überwunden und kann Katie wieder zur Seite stehen. Wissen Sie, wir Amischen stellen uns nicht in den Vordergrund. Denn das wäre Hochmut, Aufgeblasenheit, und die Wahrheit ist doch, daß es immer andere gibt, die wichtiger sind als man selbst. Deshalb wehrt Katie sich nicht oder tritt für sich selbst ein, wenn sie hört, daß andere Lügen über sie und das Baby verbreiten. Ich bin hier, um für sie einzutreten.« Als wollte er seinen Worten Taten folgen lassen, stand er langsam auf und blickte die Geschworenen an. »Sie hat die Tat nicht begangen. Sie könnte es gar nicht.«
    Alle zwölf Geschworenen waren gebannt von Samuels Gesicht, aus dem gelassene, unerschütterliche Überzeugung sprach. »Samuel, lieben Sie Katie noch immer?«
    Er wandte den Kopf, sein Blick glitt an mir vorbei und wanderte zu Katie. »Ja«, sagte er. »Ja, ich liebe sie noch immer.«
    George tippte sich mit dem Zeigefinger an die Lippen. »Sie war Ihre Freundin, aber sie hat mit einem anderen geschlafen?«
    Samuels Augen verengten sich. »Haben Sie nicht gehört, was ich vorhin gesagt habe?«
    Callahan hob beide Hände. »Ich frage mich nur, was für Gefühle Sie haben müssen, mehr nicht.«
    »Ich bin nicht hier, um über meine Gefühle zu sprechen. Ich bin hier, um über Katie zu sprechen. Sie hat nichts Unrechtes getan.«
    Ich hustete, um mein Lachen zu überspielen. Dafür, daß er unerfahren war, war mit Samuel nicht gut Kirschen essen. »Übt Ihre Religion Vergebung aus, Mr. Stoltzfus?« fragte George.
    »Samuel.«
    »Also schön. Samuel. Übt Ihre Religion Vergebung aus?«
    »Ja. Wenn jemand demütig ist und seine Sünde bekennt, wird er wieder in die Gemeinde aufgenommen.«
    »Nachdem er gestanden hat, was er getan hat.«
    »Nach dem Bekenntnis, ja.«
    »Okay. Jetzt lassen wir mal einen Augenblick die Gemeinde beiseite. Antworten Sie nicht als Amischer, antworten Sie einfach als Individuum. Gibt es nicht gewisse Dinge, die Sie einfach nicht verzeihen können?«
    Samuels Lippen wurden schmal. »Ich kann darauf nicht antworten, ohne als Amischer zu denken. Und wenn ich jemandem nicht vergeben könnte, wäre es nicht sein Problem, sondern meins, weil ich dann kein wahrer Christ wäre.«
    »In dem Fall, um den es hier geht, haben Sie Katie persönlich vergeben.«
    »Ja.«
    »Aber Sie haben gerade gesagt, Vergebung würde voraussetzen, daß die Person bereits eine Sünde bekannt hat.«
    »Nun … ja.«
    »Also wenn Sie Katie vergeben haben, muß sie doch etwas Unrechtes getan haben – obwohl Sie uns vor fünf Minuten gesagt haben, Sie hätte nichts Unrechtes getan.«
    Samuel schwieg einen Moment. Ich hielt den Atem an, wartete darauf, daß George ihm den Todesstoß versetzte. Dann blickte der Amische auf. »Ich bin kein gebildeter Mann, Mr. Callahan. Ich habe kein College besucht wie Sie. Ich weiß nicht genau, worauf Ihre Frage abzielt. Ja, ich habe Katie vergeben – aber nicht für die Tötung eines Babys. Das einzige, was ich Katie vergeben konnte, war, daß Sie mir das Herz gebrochen hat.« Er zögerte. »Und ich denke, nicht einmal ihr Englischen könnt sie dafür ins Gefängnis stecken.«
    Owen Zeigler war offenbar allergisch gegen den Gerichtssaal. Zum sechsten Mal in ebenso vielen Minuten nieste er in ein bunt gemustertes Taschentuch. »Tut mir leid. Dermatophagoides pteronyssinus .«
    »Wie bitte?« fragte Richterin Ledbetter.
    »Staubmilben. Unangenehme kleine Biester. Sie leben in Kopfkissen, Matratzen und, ich wette, auch hier unter den Läufern.« Er schniefte. »Sie ernähren sich von den Hautschuppen, die man verliert, und ihre Ausscheidungsstoffe lösen allergische Reaktionen aus. Wenn man

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