Die einzige Wahrheit
er ist mein Sohn.«
»Und Katie ist meine Tochter«, sagte Sarah langsam.
Martha legte einen Arm auf Katies Stuhllehne. »Und sie ist fast auch meine Tochter.«
Rachels Kinn hob sich leicht. »Wenn ich hier nicht erwünscht bin –«
»Du bist erwünscht, Rachel«, sagte Sarah leise. »Aber ich erlaube dir nicht, Katie hier bei sich zu Hause das Gefühl zu geben, daß sie nicht erwünscht sei.«
Ich saß atemlos auf der Stuhlkante, das warme Gewicht von Louises schlafender Tochter an meiner Brust, und wartete gespannt, wer sich durchsetzen würde. »Weißt du, was ich denke, Sarah Fisher«, setzte Rachel mit funkelnden Augen an. Doch bevor sie den Satz beenden konnte, wurde sie von einem lauten Klingeln unterbrochen.
Die Frauen blickten sich erschrocken um. Mit einem mulmigen Gefühl verlagerte ich das Kind auf meinen linken Arm und zog mit der freien Hand das Handy aus der Tasche. Die Frauen sahen mit großen Augen zu, wie ich einen Knopf drückte und das Telefon ans Ohr hob. »Hallo?«
»Meine Güte, Ellie, ich versuche seit Tagen, dich zu erreichen. Hast du dein Handy denn nie an?«
Ich wunderte mich, daß der Akku überhaupt so lang gehalten hatte – und hoffte fast, daß er jetzt einfach den Geist aufgeben würde, damit ich nicht mit Stephen würde sprechen müssen. Die amischen Frauen starrten mich an und hatten ihren Streit vorübergehend vergessen. »Ich muß diesen Anruf entgegennehmen«, sagte ich entschuldigend und reichte das schlafende Kind seiner Mutter.
»Ein Telefon?« keuchte Louise, als ich gerade den Raum verließ. »Hier im Haus ?« Sarahs Erklärung bekam ich nicht mehr mit. Aber als ich in der Küche mit Stephen sprach, hörte ich die Räder der Kutsche der Schwestern Lapp knirschend die Ausfahrt hinunterrollen.
»Stephen, das ist ein ungünstiger Augenblick.«
»Gut, es wird auch nicht lange dauern. Ich muß nur etwas wissen, Ellie. Hier in der Stadt geht das lächerliche Gerücht um, daß du als Pflichtverteidigerin für ein amisches Mädchen tätig bist. Und daß der Richter dich dazu verdonnert hat, auf der Farm zu wohnen.«
Stephen hätte sich selbst niemals in so eine Lage gebracht. »Ich würde mich nicht als Pflichtverteidigerin bezeichnen«, sagte ich. »Wir haben nur noch kein Honorar ausgehandelt.«
»Aber das übrige? Meine Güte, wo steckst du überhaupt?«
»Lancaster. Genauer gesagt etwas außerhalb von Lancaster, in Paradise.«
Ich konnte sehen, wie die dicke Ader auf Stephens Stirn anschwoll. »Und was ist mit deinem Plan, eine Pause einzulegen?«
»Das kam alles völlig überraschend – eine verwandtschaftliche Verpflichtung, die ich nicht ablehnen konnte.«
Er lachte. »Verwandtschaftliche Verpflichtung? Dann sind die Amischen wohl Vettern und Cousinen zweiten Grades, oder verwechsle ich die jetzt mit den Hare-Krishna-Anhängern mütterlicherseits? Hör doch auf, Ellie. Du kannst mir ruhig die Wahrheit sagen.«
»Tu ich ja«, stieß ich hervor. »Das ist keine Masche, um Aufmerksamkeit zu erregen, weiß Gott nicht. Es ist schwer zu erklären, aber ich verteidige jemanden, der um vier Ecken herum mit mir verwandt ist. Und ich wohne auf der Farm, weil das eine Kautionsbedingung ist. Mehr nicht«
Einen Moment lang trat Schweigen ein. »Ich muß schon sagen, Ellie, es verletzt mich, daß du aus dem Fall ein Geheimnis gemacht hast, anstatt mir zu sagen, was du vorhast. Ich meine, wenn du dir einen Ruf als Anwältin für sensationelle Fälle aufbauen willst, hätte ich dir Ratschläge und Tips geben können. Vielleicht sogar einen Job bei uns in der Kanzlei.«
»Ich will keinen Job bei dir in der Kanzlei«, sagte ich. »Ich will keine sensationellen Fälle. Und offen gesagt, ich wundere mich, daß du das Ganze als persönlichen Affront gegen dich siehst.« Ich merkte, daß meine Hand zur Faust geballt war.
»Wenn der Fall so läuft, wie ich es erwarte, wirst du Hilfe brauchen. Ich könnte rauskommen und dir assistieren, unsere Kanzlei einschalten.«
»Danke, Stephen, nein. Die Eltern meiner Mandantin hatten schon etwas gegen eine Anwältin, ein ganzes Haus voll Rechtsverdreher würden sie nicht verkraften.«
»Ich könnte trotzdem rauskommen, und du könntest ein paar Ideen mit mir durchsprechen. Oder wir setzen uns einfach auf die Veranda und trinken Limonade.«
Einen Moment lang war ich unschlüssig. Im Geist sah ich die Sommersprossen in Stephens Nacken vor mir, und wie er beim Zähneputzen das Handgelenk anwinkelte. Fast konnte ich seinen Duft riechen,
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