Die einzige Wahrheit
dienlich sein kann.«
»Ich habe nichts gesagt«, beteuerte Samuel.
»Natürlich nicht«, sagte Ellie trocken. »Ich bin sicher, die haben auch so schon genug.« Tatsächlich wurde ihr allein bei dem Gedanken daran ganz schwindelig: Damit hatte die Anklage ihr Motiv – Katie hatte den Mord begangen, um eine Unbesonnenheit zu vertuschen.
Samuel sah Ellie ernst an. »Für Katie würde ich alles tun.«
»Ich weiß.« Die Frage war, wie weit Samuels Versprechen ging. Konnte es sein, daß er einfach nur ein guter Schauspieler war und von Anfang an von der Schwangerschaft seiner Freundin gewußt hatte? Selbst wenn Sarah nichts bemerkt hatte, Samuel hätte schon bei einer einfachen Umarmung die körperlichen Veränderungen bei Katie festgestellt – und natürlich gewußt, daß er nicht der Vater war. Da es keine Fisher-Söhne gab, würde Samuel die Farm erben, solange er Katie behielt. Eine Farm in Lancaster County hatte einen enormen Wert, schon allein der Grundstückspreis mancher Farmen ging in die Millionen. Hätte Katie ein Kind geboren und dann den Kindsvater geheiratet, wäre Samuel leer ausgegangen. Das war eindeutig ein mögliches Mordmotiv – aber es deutete auf einen ganz anderen Verdächtigen hin.
»Ich denke, Sie sollten mit Katie sprechen«, sagte Ellie sanft. »Ich bin es nicht, die Ihnen die Antworten auf Ihre Fragen geben kann.«
»Wir wollten zusammensein. Das hat sie mir gesagt.« Samuels Stimme bebte. Seine Augen schimmerten feucht. Brechende Herzen hatten noch etwas an sich – bei ihrem Anblick bekam auch das eigene Herz einen feinen Riß. Samuel wandte sich mit hängenden Schultern ab. »Ich weiß, es ist der Wille des Herrn, ihr zu vergeben, aber ich kann das im Augenblick nicht. Im Augenblick will ich nur noch wissen, mit wem sie zusammen war.«
Ellie nickte und dachte: Da bist du nicht der einzige.
Ranken wanden sich um das Fundament der Eisenbahnbrücke, reckten sich bis zur Hochwassermarke und zu den Nieten, die Stahl mit Beton verbanden. Katie rollte die Beine ihrer Jeans auf, zog Schuhe und Socken aus und folgte Adam ins seichte Wasser. Kieselsteine bohrten sich ihr in die Fußsohlen; auf den glitschigen, glatten Steinen rutschte sie aus. Als sie nach dem Pfeiler griff, um sich abzustützen, spürte sie, wie Adams Hände sich auf ihre Schultern legten. »Es ist Dezember 1878«, flüsterte er. »Ein Eissturm. Zweihundertdrei Passagiere sind in einem Zug der Pennsylvania Line unterwegs nach New York, um dort Weihnachten zu verbringen. Da oben, am Rand der Brücke, entgleist der Zug, und die Waggons stürzen ins eisige Wasser. Einhundertsechsundachtzig Menschen sterben.«
Sein Atem wehte seitlich gegen ihren Hals, und dann trat er unvermittelt von ihr weg. »Wieso sind hier dann nicht einhundertsechsundachtzig Geister?« fragte Katie.
»Vermutlich sind es so viele. Aber der einzige, der von etlichen Leuten gesehen worden ist, ist der von Edye Fitzgerald.« Adam ging zurück zum Flußufer, setzte sich und begann, sich an einer langen, flachen Mahagonikiste zu schaffen zu machen. »Edye und John Fitzgerald waren frisch verheiratet und wollten in New York ihre Flitterwochen verbringen. John hat den Unfall überlebt und soll angeblich mit den Rettungskräften in dem Zugwrack gearbeitet und immer wieder den Namen seiner Frau gerufen haben. Nachdem er ihre Leiche identifiziert hatte, fuhr er allein nach New York, mietete die Flitterwochensuite in einem schicken Hotel und beging Selbstmord.«
»Das ist eine Sünde«, sagte Katie ausdruckslos.
»Ja? Vielleicht hat er nur versucht, wieder mit Edye zusammenzusein.« Adam lächelte schwach. »Diese Suite würde ich gerne mal untersuchen und nachsehen, ob er dort noch herumspukt.« Er öffnete den Deckel der Holzkiste. »Jedenfalls gibt es über zwanzig Berichte von Menschen, die Edye gesehen haben, wie sie hier unten im Wasser herumlief, die gehört haben, wie sie Johns Namen rief.«
Er nahm zwei lange L-förmige Ruten aus der Kiste und wirbelte sie in den Händen wie ein Revolverheld. Katie sah ihm mit großen Augen zu. »Was willst du denn damit?«
»Einen Geist fangen.« Als er ihre schockierte Miene sah, mußte er lachen. »Hast du schon mal eine Wünschelrute benutzt? Vermutlich nicht. Manche Menschen ziehen damit los und suchen Wasser oder sogar Gold. Aber Wünschelruten registrieren auch Energie. Dann fangen sie an zu zittern.«
Er ging so geräuschlos um den Zementpfeiler herum, daß das Wasser um seine Beine kaum ein Plätschern
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