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Die einzige Wahrheit

Die einzige Wahrheit

Titel: Die einzige Wahrheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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von sich gab. Er hatte die Hände um die Ruten gelegt, den Kopf konzentriert nach unten geneigt.
    Sie konnte sich nicht vorstellen, daß ihre Eltern das taten, was John und Edye in der Leidenschaft ihrer Liebe getan hatten. Nein, wenn ein Ehepartner starb, war das der natürliche Lauf der Dinge, und die Witwe oder der Witwer lebte sein Leben weiter. Wenn sie recht darüber nachdachte, hatte sie noch nie gesehen, daß ihr Dad ihrer Mam auch nur einen flüchtigen Kuß gab. Aber sie erinnerte sich, daß er den ganzen Tag von Hannahs Beerdigung den Arm um sie gelegt hatte, daß er Mam manchmal, wenn er fertig gegessen hatte, so anstrahlte, als hätte sie gerade die Sterne vom Himmel geholt. Man hatte Katie gelehrt, daß eine Ehe durch Einigkeit und ein einfaches Leben zusammengehalten wurde – und die Leidenschaft kam danach, insgeheim. Aber wer konnte sagen, ob sie nicht davor kam? Dieser Seufzer, der unaufhaltsam aus ihrer Brust aufstieg, der Feuerball in der Magengrube, wenn sein Arm sie streifte, der Klang seiner Stimme, die sich ihr ums Herz legte – konnten nicht auch solche Dinge einen Mann und eine Frau für immer aneinander binden?
    Plötzlich verharrte Adam. Seine Hände zitterten leicht, als die Ruten auf und ab wippten. »Da ist etwas … genau hier.«
    Katie lächelte. »Ein Zementpfeiler.«
    Ein Schatten der Enttäuschung huschte so rasch über Adams Gesicht, daß Katie nicht wußte, ob sie ihn sich eingebildet hatte. Die Ruten begannen kräftiger auszuschlagen. Adam riß sich von der Stelle los. »Du denkst, ich erfinde das nur.«
    »Nein, ich –«
    »Du mußt mich nicht anlügen. Ich sehe es dir an.«
    »Du verstehst das nicht«, begann Katie.
    Adam hielt ihr schroff die Ruten hin. »Nimm sie«, forderte er sie auf. »Spür es selbst.«
    Katie schloß die Hände um die Stellen, die von seinen Händen warm waren. Vorsichtig ging sie dahin, wo Adam gestanden hatte.
    Zuerst war es ein Schauer, der ihr den Rücken hinauflief. Dann kam eine unsägliche Traurigkeit, die über sie fiel, wie ein Fischernetz. Katie spürte das Zerren der Ruten, als stünde jemand am anderen Ende und klammerte sich verzweifelt daran fest. Sie biß sich auf die Unterlippe, hielt mühsam fest und begriff, daß diese Ruhelosigkeit, diese unsichtbare Energie, dieser Schmerz – daß das ein Geist war.
    Adam berührte sie an der Schulter, und Katie brach in Tränen aus. Es war zuviel – die Gewißheit, daß die Toten vielleicht noch hier auf Erden sind und daß es in all den Jahren, jedesmal, wenn sie Hannah gesehen hatte, keine Einbildung gewesen war. Sie spürte Adams Arme, die sich um sie legten, und sie schämte sich, weil sie in sein Hemd schluchzte. »Schschsch«, sagte er, als nähere er sich einem wilden, verstörten Tier. »Ist ja gut.«
    Aber es war nicht gut. Trug Hannah die gleiche Verzweiflung mit sich herum, wie Katie sie bei Edye Fitzgerald gespürt hatte? Rief sie immer noch nach Katie, damit die sie rettete?
    Adams Lippen lagen warm auf Katies Ohr. »Du hast sie gefühlt«, raunte er ehrfürchtig, und Katie nickte.
    Wieder spürte sie das Beben, aber diesmal kam es aus ihrem Innern. Adams Augen waren hell, von dem Blau, das man sieht, wenn man sich in einem Kornfeld im Kreis dreht, sich dann schwindelig auf den Rücken fallen läßt und zum Himmel hochschaut. Ihr Herz pochte, und alles drehte sich, als sie an Edye und John Fitzgerald dachte. Sie dachte an jemanden, der sie so lieben würde, daß er in alle Ewigkeit ihren Namen rief. »Katie«, flüsterte Adam und neigte den Kopf.
    Sie war schon geküßt worden, trocken und fest, so daß es fast weh tat. Adam dagegen strich ihr mit seinem Mund über die Lippen, so daß sie prickelten und ihr die Kehle schmerzte. Sie merkte, wie sie sich fester an ihn schmiegte. Er schmeckte nach Kaffee und Pfefferminzkaugummi; er hielt sie fest, als drohe sie zu zerbrechen.
    Plötzlich wich Adam zurück. »Mein Gott«, sagte er und machte einen Schritt nach hinten. »O Gott.«
    Katie strich sich die Haare hinter die Ohren, wurde rot und starrte zu Boden. Was war nur in sie gefahren? So benahm sich kein amisches Mädchen. Aber andererseits war sie hier und jetzt ja auch kein amisches Mädchen. In diesen Sachen, die Jacob ihr besorgt hatte, mit ihrem Haar, so offen und frei, wie die Englischen es trugen, fühlte sie sich wie jemand ganz anderes. Jemand, der an Geister glauben konnte. Jemand, der an Liebe auf den ersten Blick glauben konnte, an Liebe, die ewig währte.
    Schließlich

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