Die einzige Wahrheit
geduscht die Treppe herunterkam, saß Coop mit Katie und Sarah auf der Veranda. Ein Teller Kekse stand auf dem Korbtisch, und Coop hielt ein Glas Eiswasser in der Hand. Sobald er mich sah, stand er auf.
»Noch immer der alte Gentleman«, sagte ich lächelnd.
Er beugte sich vor und gab mir einen Kuß auf die Wange, und zu meiner Überraschung stürmten hundert Erinnerungen auf mich ein – an den Duft seiner Haare nach Holzrauch und Äpfeln, an die Kontur seines Kinns, den Druck seiner Finger auf meinem Rücken. Benommen trat ich einen Schritt zurück und gab mir Mühe, nicht verlegen zu wirken. »Die Ladys waren so nett, mir Gesellschaft zu leisten«, sagte er.
Sarah erhob sich. »Wir lassen dich jetzt mit deinem Besuch allein«, sagte sie, nickte Coop zu und ging zurück ins Haus. Katie spazierte in Richtung Garten, und ich setzte mich. Die zwanzig Jahre hatten Coop nicht zu seinem Nachteil verändert. Sein Gesicht, das im College noch ein bißchen zu hübsch gewesen war, wirkte markanter. Sein schwarzes Haar, das ihm früher bis zu den Schultern reichte, war kurz geschnitten und grau meliert. Die Augen hatten noch immer dieses blasse Grün, das ich nur zweimal in meinem Leben gesehen hatte: bei Coop und einmal vom Fenster eines Flugzeuges aus, als ich mit Stephen unterwegs in die Karibik war.
»Das Älterwerden ist dir gut bekommen«, sagte ich.
Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und lächelte mich an. »Du siehst auch gut aus. Vor allem im Vergleich zu deinem Zustand vor rund fünfzehn Minuten. Ich hab ja schon öfters gehört, daß der Anwaltsberuf ein dreckiges Geschäft sein soll, aber so wörtlich hab ich das nie aufgefaßt.«
»Na ja, das ist ungefähr so, als würde sich Dustin Hoffman auf eine Rolle vorbereiten. Die Amisch sind Fremden gegenüber nicht sehr vertrauensselig. Wenn ich so aussehe wie sie, mit ihnen zusammen arbeite, komme ich besser an sie ran.«
»Muß schwer sein, hier festzusitzen, so weit weg von zu Hause.«
»Wer will das wissen, John Joseph Cooper, der Psychologe?« Er wollte etwas sagen, schüttelte dann den Kopf. »Nein. Bloß Coop, der alte Freund.«
Ich zuckte die Achseln und wich seinem aufmerksamen Blick aus. »Ein paar Dinge vermisse ich schon – meine Kaffeemaschine beispielsweise. Akte X und Emergency Room .«
»Stephen nicht?«
Ich hatte vergessen, daß Coop und ich, als wir uns das letzte Mal begegneten, in Begleitung unserer Partner gewesen waren. Wir waren uns in der Pause eines Konzerts des Philadelphia Symphony Orchestra über den Weg gelaufen. Wir hatten zwar beruflich ab und an miteinander zu tun gehabt, aber seiner Frau war ich vorher noch nie begegnet. Sie war grazil und blond und paßte verdammt gut an seine Seite. Selbst nach so vielen Jahren war ihr Anblick für mich ein Schlag in die Magengrube gewesen.
»Mit Stephen ist es aus«, gab ich zu.
Coop betrachtete mich einen Moment, bevor er sagte: »Tut mir leid, das zu hören.«
Ich atmete tief durch, brachte ein Lächeln zustande und schlug mir auf die Knie. »Na. Du bist nicht den weiten Weg gekommen, um über mich zu reden –«
»Aber das wäre ich, Ellie«, sagte Coop mit weicher Stimme. »Ich hab dir schon vor langer Zeit verziehen.«
Coop mochte mir verziehen haben, aber ich mir selbst nicht.
»Ich erzähl dir am besten erst mal, was ich wegen Katie rausgefunden habe.« Coop kramte in seiner Aktentasche und zog einen Block heraus. »Die Psychologen sind zum Thema Neonatizid in zwei Lager gespalten. Eine Minderheit vertritt die Auffassung, daß sich Frauen, die ihre Neugeborenen töten, in einem dissoziativen Zustand befinden, der die gesamte Schwangerschaft anhält.«
»Dissoziativer Zustand?«
»Ein überaus konzentrierter selektiver Zustand, in dem alles außer der aktuellen Tätigkeit ausgeblendet wird. Die betroffenen Frauen spalten einen Teil ihres Bewußtseins ab, so daß sie in einer Phantasiewelt leben, in der sie nicht schwanger sind. Wenn schließlich die Geburt einsetzt, sind die Frauen absolut überrumpelt. Sie haben sich von der Realität des Ereignisses dissoziiert, haben Gedächtnislücken. Manche Frauen werden sogar vorübergehend psychotisch, sobald der Schock der Geburt durch ihr Verdrängungsschutzschild bricht. Schuldmildernd ist in jedem Fall, daß sie zum Zeitpunkt des Verbrechens psychisch gar nicht anwesend sind, so daß sie für ihre Taten nicht verantwortlich gemacht werden können.«
»Klingt ziemlich verworren.«
Coop lächelte und reichte mir eine Liste
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