Die einzige Wahrheit
leise.
»Einmal im Monat fährt sie mit dem Zug nach State College. Zur Universität. Sarah weiß davon, aber Aaron glaubt, daß Katie bei mir zu Besuch ist. Ich bin ihr Alibi, und da Aaron niemals zu mir nach Hause kommen würde, hat Katie nichts zu befürchten.«
»Was macht sie an der Universität?«
Leda atmete tief aus. »Sie besucht ihren Bruder.«
»Wie bitte schön soll ich denn Katie verteidigen, wenn hier keiner mit mir kooperiert? Zum Donnerwetter, Leda, ich bin seit fast zwei Wochen hier, und kein Mensch hat es bisher für nötig gehalten, mir zu erzählen, daß Katie einen Bruder hat, den sie einmal im Monat besucht?«
»Das war bestimmt keine Absicht«, erklärte Leda hastig. »Jacob ist exkommuniziert, wie ich, weil er studieren wollte.
Aaron hat gesagt, Jacob sei nicht mehr sein Sohn, wenn er seinen Glauben aufgeben würde. Sein Name wird im Haus nicht mehr ausgesprochen.«
»Was ist mit Sarah?«
»Sarah ist eine amische Frau. Sie fügt sich den Wünschen ihres Mannes. Sie hat Jacob nicht mehr gesehen, seit er vor sechs Jahren fortgegangen ist – aber sie schickt heimlich Katie als ihre Botschafterin, einmal im Monat.« Leda fuhr zusammen, als die automatische Rührmaschine ansprang und die Milch im Tank durchrührte. Sie hob die Stimme, um über das Brummen des Aggregats hinwegzusprechen, das die Maschine mit Strom versorgte. »Nach Hannah konnte sie keine Kinder mehr bekommen. Zwischen Jacob und Katie hatte sie bereits einige Fehlgeburten. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, Jacob zu verlieren, wie sie Hannah verloren hatte. Also hat sie es indirekt verhindert.«
Ich stellte mir vor, wie Katie allein im Zug nach State College fuhr, und mit ihrer Kapp, ihrem knopflosen Kleid und der Schürze neugierige Blicke auf sich zog. Ich malte mir aus, wie sie mit ihrem unschuldigen Gesicht bei einer Studentenfete den Raum erhellte. Ich sah, wie sie sich gegen die grapschenden Hände eines Collegejungen wehrte, der sich mit neunzehn schon besser in der Welt auskannte, als Katie es je in ihrem Leben tun würde. Ich fragte mich, ob Jacob wußte, daß Katie schwanger gewesen war, ob er mir den Namen des Kindsvaters nennen konnte. »Ich muß mit ihm reden«, sagte ich.
Dann stöhnte ich auf. Ich konnte nicht weg von der Farm. Am Nachmittag würde Coop kommen, um mit Katie ein Gespräch zu führen.
Wenn ich in den letzten zehn Tagen überhaupt etwas gelernt hatte, dann, daß die amische Lebensart langsam war. Man arbeitete gewissenhaft, jede Fahrt dauerte ewig, sogar ihre Gottesdienstlieder klangen besonnen und traurig. Amische Menschen sahen nicht ständig auf die Uhr. Sie waren nicht in Eile, sie nahmen sich einfach so viel Zeit, wie sie für eine Aufgabe brauchten.
Jacob Fisher mußte ganz einfach warten.
»Wieso hast du mir nicht erzählt, daß du einen Bruder hast?«
Katie, die gerade einen langen Schlauch an den Wasserhahn im Hof anschloß, erstarrte in der Bewegung. »Ich hatte einen Bruder«, sagte sie.
»Nun, man munkelt, daß er quicklebendig ist und in State College lebt.« Ich band mir Sarahs Schürze um und machte mich bereit, Jungkühe abzuspritzen. »Und man munkelt auch, daß du ihn von Zeit zu Zeit besuchst.« Katie öffnete den Kran und testete die Schlauchdüse. »Bei uns wird nicht mehr über Jacob gesprochen. Mein Vater möchte das nicht.«
»Ich bin nicht dein Vater.« Katie begann, den Schlauch hinaus auf die Weide zu ziehen, und ich trottete hinterdrein. Ein Schwarm Mücken umkreiste meinen Kopf, und ich schlug sie weg. »Es ist bestimmt schwierig, Jacob heimlich zu besuchen, oder?«
»Er geht mit mir ins Kino. Und er hat mir eine Jeans gekauft. Es ist nicht schwer. Wenn ich nämlich bei ihm bin, bin ich nicht Katie Fisher.«
Ich blieb stehen. »Wer bist du dann?«
Sie zuckte die Achseln. »Irgendein Mädchen auf der Welt.«
»Es muß doch sehr schlimm für dich gewesen sein, als dein Vater ihn aus dem Haus gejagt hat.«
Katie gab dem Schlauch einen kräftigen Ruck. »Es war schon vorher schlimm, als Jacob heimlich gelernt und gelogen hat. Er hätte einfach bekennen sollen.«
»Aha«, sagte ich. »So, wie du das tun wirst. Obwohl du unschuldig bist.«
Die Mücken umschwirrten jetzt Katies Kopf in einem Halbkreis, wie ein Heiligenschein. »Du verstehst uns nicht«, sagte sie anklagend. »Bloß weil du seit zehn Tagen hier wohnst, weißt du noch lange nicht, was es heißt, amisch zu leben.«
»Dann erklär’s mir, so daß ich es verstehe«, sagte ich.
»Für euch
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