Die einzige Wahrheit
kommen Sie.« Die Polizistin grinste. »Haben Sie sie nicht Ihrer Freundin vorgestellt? Oder dem Burschen, der sonst hier auf dem Stuhl sitzt?«
»Sie war sehr schüchtern, und sie war die ganze Zeit mit mir zusammen.«
»Sie hat nie allein etwas unternommen? Ist nie allein in die Bibliothek gegangen oder einkaufen?«
Jacobs Gedanken überschlugen sich. Er dachte daran, wie oft er Katie im letzten Herbst allein gelassen hatte, wenn er zur Uni mußte. Allein in dem Haus, das er von einem Mann gemietet hatte, der auf eine Forschungsreise gehen wollte, die er nicht nur einmal, sondern gleich dreimal verschoben hatte. Er sah die Polizistin an. »Eins müssen Sie wissen, meine Schwester und ich sind zwei völlig verschiedene Typen. Sie ist mit ganzer Seele amisch – sie lebt, schläft, atmet es. Mich hier zu besuchen war für sie eine Prüfung. Selbst wenn sie hier Leute kennengelernt hat, haben die soviel Eindruck auf sie gemacht wie Öl auf Wasser.«
Lizzie Munro schlug eine leere Seite ihres Notizblocks auf. »Warum sind Sie nicht mehr amisch?«
Das war wieder sicherer Boden. »Ich wollte studieren. Das verstößt gegen die Regeln der Amischen. Ich war damals Tischlerlehrling und habe irgendwann einen Englischlehrer von einer High-School kennengelernt, der mir einen Stapel Bücher geliehen hat, die für mich wie pures Gold waren. Und als ich die Entscheidung traf, aufs College zu gehen, wußte ich, daß ich exkommuniziert werden würde.«
»Soweit ich weiß, hat das die Beziehung zwischen Ihnen und Ihren Eltern sehr belastet.«
»Das kann man wohl sagen«, gab Jacob zu.
»Mir ist gesagt worden, daß Sie für Ihren Vater so gut wie tot sind.«
Er antwortete knapp: »Wir sehen uns nicht mehr.«
»Wenn Ihr Vater Sie aus dem Haus verbannt hat, weil Sie studieren wollten, was meinen Sie, hätte er wohl getan, wenn Ihre Schwester ein uneheliches Kind bekommen hätte?«
Er lebte schon lange genug in dieser Welt, um zu wissen, wie das Rechtssystem funktionierte. Er beugte sich vor und fragte leise: »Wen aus meiner Familie verdächtigen Sie?«
»Katie«, sagte Munro trocken. »Wenn Sie so amisch ist, wie Sie sagen, dann wäre es doch denkbar, daß sie zu allem bereit gewesen wäre – auch dazu, einen Mord zu begehen –, um amisch zu bleiben und zu verhindern, daß Ihr Vater je von diesem Kind erfährt. Was bedeutet, daß sie die Schwangerschaft geheimhalten und das Kind nach der Geburt loswerden mußte.«
»Wenn sie so amisch ist, wie ich sage, dann wäre das undenkbar.« Jacob stand abrupt auf. »Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden, Detective, ich habe zu arbeiten.«
Er lauschte den sich entfernenden Schritten. Dann griff er zum Telefon. »Tante Leda«, sagte er einen Augenblick später. »Was in aller Welt ist bei euch los?«
Als der Gottesdienst sich dem Ende zuneigte, war Katie schwindelig. Nicht bloß von der drückenden Sommerhitze und den vielen zusammengedrängten Menschen in dem kleinen Haus. Der Bischof berief eine Mitgliederversammlung ein, und während alle, die noch nicht getauft waren, das Haus verließen, beugte Ellie sich zu ihr. »Was machen die?«
»Sie müssen gehen. Du auch.« Sie sah, daß Ellie ihr auf die zitternden Hände starrte.
»Ich rühr mich nicht vom Fleck.«
»Du mußt«, beschwor Katie sie. »So ist es einfacher.«
Ellie schüttelte den Kopf. »Von wegen. Sag ihnen, sie kriegen es mit mir zu tun.«
Bischof Ephram akzeptierte, daß Ellie bei einer Gemeindeversammlung dabei war. »Katie Fisher«, rief einer der Prediger.
Sie glaubte nicht, daß sie würde stehen können, so sehr zitterten ihr die Knie. Sie spürte die Blicke auf sich: Ellies, Mary Eschs, den ihrer Mutter, sogar Samuels. All diese Menschen würden Zeugen ihrer Schande werden.
Im Grunde spielte es keine Rolle, ob sie das Kind bekommen hatte oder nicht. Sie hatte nicht die Absicht, ihre Privatangelegenheit vor der Gemeinde zu erörtern, obwohl Ellie ihr von verfassungsmäßigen Rechten erzählt hatte, die ihr zustanden, und von Femegerichten. Katie war in der Überzeugung erzogen worden, daß es besser war, sich nicht zu verteidigen, sondern aufzustehen und die bittere Medizin zu schlucken. Sie holte tief Luft und ging zu den Predigern.
Als sie sich hinkniete, spürte sie die Rillen der Eichendielen an ihren Knien, und sie genoß den Schmerz, weil er sie ablenkte. Sie neigte den Kopf, und Bischof Ephram begann zu sprechen. »Uns ist zu Ohren gekommen, daß die junge Schwester sich der Sünde des
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