Die einzige Zeugin

sie glatt streichen. Auf dem Tisch war kein Platz mehr, also ging sie zum Bett und glättete das Papier auf der Bettdecke.
    Es waren drei eng mit Füller beschriebene Seiten. Ganz oben stand, Meine liebe Jessica . Sie betrachtete die erste Seite. Einige Absätze waren schief. An einigen Stellen war die Tinte dunkler, an anderen heller. Auf der zweiten Seite wurde die Schrift kleiner, dann stolperte sie wieder in größeren Buchstaben über die Seite. Einige Sätze waren sogar an der Seite entlang geschrieben worden wie ein nachträglicher Gedanke. Die dritte Seite war nur zu drei Vierteln voll und ganz am Ende, nach den Worten
    Ich liebe dich , stand
    GRACE .
    Es war ein Brief von ihrer Mutter an ihre Tante.
    Lauren ließ das Papier auf der Decke liegen und ging durchs Zimmer, als ob sie Abstand zu diesem Brief gewinnen wollte. Es waren die Worte ihrer Mutter. Ihre Stimme aus der Vergangenheit. Sie hielt eine Weile den Atem an. Sie wusste, dass dies etwas Wichtiges war, etwas Bedeutsames.
    Das Puppenhaus stand leblos auf dem Tisch, die einzelnen, nur halb aufgeräumten Zimmer lagen im Dunklen. Um das Haus herum lagen kleine Teile aus dem Inneren, einige davon zerbrochen. Der Brief ihrer Mutter hatte zehn Jahre lang darin gelegen. Ihre Worte waren von einem Teppich erstickt worden.
    Lauren ging zum Bett und nahm den Brief mit zitternden Fingern.

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    Der Brief war schwer zu lesen. Die Handschrift war unregelmäßig und klein, an manchen Stellen winzig. An mehreren Stellen war die Tinte sehr hell, als wären die Worte abgeschwächt oder geflüstert worden. Manche Wörter waren noch einmal überschrieben worden. In einigen Sätzen gab es Satzzeichen, in anderen nicht, in manchen waren sie nachträglich hinzugefügt worden.
    Aber es war ein Brief ihrer Mutter. Sie las jedes einzelne Wort langsam und gewissenhaft. Sie kam sich vor, als entzifferte sie einen Code. Für die erste Seite brauchte sie am längsten, weil sie mehrere Abschnitte zweimal lesen musste.
    Meine liebe Jessica,
    was wirst du denken, wenn du diesen Brief bekommst? Du wirst denken, dass ich jetzt völlig durchgedreht bin, und vielleicht hast du recht. Ich mag verrückt sein, aber ich bin kein schlechter Mensch. Du wirst diesen Brief finden und lesen und du wirst dich fragen, was mit deiner armen Schwester passiert ist, als du nach Spanien gegangen bist. Wer hätte gedacht, dass ich nach Robbie jemals einen anderen haben könnte??? Ich habe ihn vor ein paar Wochen auf einem Kindergeburtstag bei den Nachbarn getroffen. Er war der Clown. Er war sehr lustig, aber das war nur eine Maske, darunter war er widerlich. Du würdest nicht glauben, was ich unter dieser Maske entdeckt habe. Nach der Party habe ich noch nichts mit ihm angefangen, erst ein paar Tage später, als ich ihn im Kaufhaus getroffen habe. Er hat mir seine Karte gegeben, weil ich gesagt habe, dass ich an Laurens Geburtstag vielleicht eine Party machen würde. Ich habe ihn angerufen. Billy, so heißt er. Er sieht nicht besonders aus, aber er hatte so ein freundliches Gesicht und er sagte, dass er Kinder liebte, er mochte seinen Job gerne und er konnte gut mit ihnen umgehen. Ich habe ihn nicht durchschaut. Ich habe ihm geglaubt. Es ist nicht leicht, wenn dein Mann dich mit zwei kleinen Kindern sitzengelassen hat, wer will dich schon?? Wer will zwei Kinder und eine abservierte Frau? Nicht viele Männer, aber er schon. Er war nett und lustig, und ich mochte es, dass er nicht gut aussah (Robbie sieht gut aus, und du weißt, was ich davon hatte). Ich dachte, es wäre vielleicht ein neuer Anfang. Er konnte so gut mit Daisy umgehen, er hat sie auf den Arm genommen und ihr vorgesungen, aber jetzt wird mir schlecht, wenn ich daran denke, dass dieses Tier mein süßes Baby gehalten hat. Er mochte auch Lauren, aber er sagte, dass er sie nicht drängen wollte, ältere Kinder bräuchten Zeit, um einen kennenzulernen, und ich war so blöd und habe ihm geglaubt, ich habe ihm geglaubt, was bin ich nur für eine Idiotin, ein absoluter Schwachkopf!!! Ich habe hinter seinen Lügen nicht die Person gesehen, die er wirklich war.
    Lauren konnte nicht weiterlesen. Es war, als hätte sie die zornige Stimme ihrer Mutter im Ohr. Also hatte ihre Mutter tatsächlich eine Affäre mit William Doyle gehabt. Bei dem Gedanken wurde ihr schlecht. Jetzt, zehn Jahre später, wusste sie, dass er andere Frauen und Kinder getötet hatte. Aber ihre Mutter konnte das damals nicht wissen. Egal, wie sehr sie sich vor ihm gefürchtet